57. Im Dunkeln saß ein Riesenzeck

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Logisch, dass das meine Pläne komplett über den Haufen warf! Mara war, genau wie ich, das Kind einer Waldkreatur, eines Wesens von der anderen Seite? Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Mara hatte nie etwas in dieser Richtung erwähnt. Ich wusste, dass sie mit ihrer Mutter allein lebte, ihr Geld hinten und vorne nicht reichte, um sich über Wasser zu halten. Besaß sie ebenfalls einen Talisman, einen Schutzzauber? Offenbar nicht, denn dann hätten die Lauenstein-Brüder sie nicht kidnappen können. Wusste Mara von ihrer Herkunft, kannte sie ihren echten Vater? Oder war es vielleicht so, und ich hoffte es wie nichts auf der Welt, dass alles nur ein Versehen war, die Lauenstein-Brüder sich geirrt hatten?

Mir fiel die Liste wieder ein, dich ich in Rebeccas Zimmer von der Wand genommen hatte, damals, als ich Pastor Lauenstein besuchte und er mich in das Zimmer seiner Tochter einlud. Wusste er inzwischen, dass ich am Schicksal seiner Tochter nicht ganz unbeteiligt war?
Ich griff nach hinten in den Bus, zerrte die ausgebeulte Adidas-Tasche heraus und suchte darin die Hose, welche ich damals im Pfarrhaus getragen hatte. Rebeccas Liste steckte noch darin! Ich faltete das Blatt auseinander und studierte die darauf notierten Namen und Adressen. Auf der Vorderseite fand ich Maras Namen nicht, doch der Zettel besaß noch eine Rückseite. Und da war sie, gleich unter meinem Namen! Mara Beermann, Im Strange 13.

„Lyff, geht es Mara gut? Ist sie unverletzt?"
Es rumpelte jetzt lauter im Lautsprecher des Walki-Talkis, der Motor des Transporters heulte angestrengter. Offensichtlich fuhren sie einen Berg hinauf oder durchquerten sehr unebenes Gelände.
„Sie wirkt ein bisschen benommen, plinkert so komisch mit den Augenlidern, aber sonst ist sie fit. Der Junge auch. Er heißt Erik. Sieht nett aus!"
„Prima Lyff! Hast du eine Ahnung, wo der Wagen hinfährt? Haben die Männer irgendwas gesagt?"
„Sie sind von der Straße abgefahren, Waldweg oder so."

Lyff saß in einer Kiste. Sie konnte unmöglich sehen, wohin die Lauensteins fuhren. Sie musste sich ganz auf ihr kriminalistisches Talent verlassen. Und das besaß sie, ganz ohne Zweifel.

„Da klatscht was von außen gegen den Wagen!"
„Zweige?"
„Kann sein. Sei mal ruhig, ich höre den Fahrer reden!"
Pause. Stille.

„Er sagt was von Molchhöhle."
„Molchhöhle? Lyff, bist du ganz sicher?"
„Oder Mundsföhre."
„Hat er vielleicht Mönchshöhe gesagt? Lyff, Mönchshöhe?"
Die Worte kratzten mir im Hals, ich bekam sie kaum heraus. Meine Lippen zitterten, ich schwitzte. Welch ein Alptraum!
„Ja, Mönchshöhe. Kommt hin! Ich muss jetzt leise sein!"

Einer hinein, ein andrer hinaus,
so ist es schon seit ew'gen Zeiten.

Natürlich kannte ich die Legenden, welche sich um die Mönchshöhe rankten. Ich kannte Ottes Buch. Spätestens seit dessen Lektüre wusste ich, was ihresgleichen mit Wittichen zu tun gedachte. In die schwarzen Wasser der labyrinthischen Höhlen wollten sie sie treiben, in der Hoffnung, der Gesellschaft einen Gefallen zu tun und als Gegenleistung von der anderen Seite eine mächtige, magische Gestalt geschickt zu bekommen, eine Kreatur, die ihnen blind gehorchte.
Welchen Plan verfolgten die Lauenstein-Brüder? Glaubten sie, dass zwei geopferte Wittiche eine noch mächtigere Kreatur hervorbrachten? Verfügten sie bereits über Erfahrungen? Wieviele arme Bürgerinnen und Bürger Grubenhagens hatten sie in der Zwischenzeit eingefangen und zur Mönchshöhe verschleppt?

„Lyff, ich bin auf dem Weg zu dir! Sag Mara und Erik, dass ich komme und euch rette! Ich werde zu euch kommen und euch befreien! Habt keine Angst! Keine Angst!"

Was um alles in der Welt redete ich da? Ich wusste in keinster Weise, wie ich rechtzeitig an der Mönchshöhe ankommen sollte, wie ich es verhindern konnte, dass die drei in die Höhlen verschleppt und geopfert wurden. Ein Wunder, ich benötigte ein Wunder. Besser noch zwei oder drei gleichzeitig. Ich sah Amanda an und sie sah mich an.

„Amanda, du Wunderkatze. Wer oder was bist du? Mal hast du einen schwarzen Kopf, dann wieder nicht. Du erscheinst mir als schneeweißer Zaubertiger. Was soll ich davon halten?"

Amanda maunzte und für einen kurzen Moment dachte ich, sie würde mir gleich wieder den Talisman vom Hals nehmen, doch sie legte bloß ihren Kopf an meinen Hals und schnurrte. Wie sehr mich das beruhigte! Ich legte die Straßenkarte beiseite, ergriff das Steuer und startete den Wagen. Er sprang problemlos an.

Den Fußweg zur Mönchshöhe kannte ich gut. Ich war ihn unzählige Male gelaufen. Allein, mit Freunden, mit meinen Eltern, mit den Schwärmen meiner Jugendzeit oder mit der Klasse.
Das Walki-Talki stand neben mir in der Ablage. Während ich aus der Stadt hinaus und die gewundene Schotterstraße hinauf in die Wälder fuhr, drang kein einziger Ton aus dem Gerät, dabei hätte ich so gern Lyffs oder Maras Stimme gehört, ein Lebenszeichen von ihnen erhalten.
Draußen war es noch immer sehr warm. Die Klima-Anlage des Bullis funktionierte nicht, mir brach erneut der Schweiß aus. Durch das Loch in der kaputten Windschutzscheibe pfiff ein lauer Windhauch, wenigstens das. Ich schielte hinauf zu den Baumkronen. Am Himmel braute sich ein Gewitter zusammen. Graugelbe Wolken, aufgetürmt wie Windbeutelsahne, die selbst in der Dämmerung deutlich zu erkennen waren. Ab und zu erhellte ein Wetterleuchten die Waldszenerie und jedes Mal erschrak ich erneut.

Links von mir lag das Teufelsbad, ein hübsch gelegener Badesee, an dem ich gern gehalten und gebadet hätte. Doch weiter, nur weiter!
Der Wald wurde dichter, die Straße schmaler. Schließlich stand ich auf dem Parkplatz unterhalb der Kahlen Kuppe, auf dessen höchster Stelle sich die Felsformation der Mönchshöhe erhob. Ein schmaler Weg führte von hier aus über Holzstiegen und Felstrümmer hinauf.
Wie oft war ich diesen unwirtlichen Weg schon gegangen, ohne mir im geringsten Gedanken darüber gemacht zu haben, welch schrecklichen Zweck dieser Ort, dieser Felsen seit hunderten oder tausenden von Jahren erfüllte.
Woher hätte ich es auch wissen sollen? Bis vor wenigen Tagen hatte ich noch nie etwas von Wittichen, Ottes Hetzschrift und den Wesen auf der anderen Seite, geschweige denn von Pastor Lauensteins abartiger Mission und seinen umtriebigen Kindern gehört.

Ich parkte den Bulli am Rand des Parkplatzes, wo die Büsche ausladend waren und den Wagen gut versteckten. Was brauchte ich für meine Rettungsmission? Mitnehmen konnte ich nur, was in meinen Rucksack passte, alles andere wäre zu schwer und zu sperrig gewesen.
Wahllos schmiss ich Werkzeug, Lebensmittel und andere Dinge hinein, von denen ich annahm, dass sie mir dienlich sein konnten. Eine Taschenlampe, eine Packung Kekse, Pflaster, eine Decke, ein kleines Seil, den Klappspaten und zwei gefüllte Wasserflaschen.

Ich ließ Amanda herausspringen, schmiss die Schiebetür zu und schloss den Bulli ab. Hier stand ich nun auf einem gottverlassenen Parkplatz, inmitten dunkler Wälder. Keine Menschenseele weit und breit.

Die Geschichte dieses Ortes sprang mich an wie ein blutgieriger Riesenzeck.

Lupo Scholz dreht auf (Fantasy/Humor)Where stories live. Discover now