20. Postmann, Porto, Terroristen

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In wenigen Stunden würde Frau Scheck zurück kommen. Ich dachte ernsthaft daran, ihre Wohnung zu saugen und die wichtigsten Stellen von Staub zu befreien, kniff mir dann aber in den Handrücken und besann mich eines Besseren. So gut war unser Verhältnis nun doch nicht, und nur weil sie eine alte Frau war, musste ich kein unnötiges Mitleid haben.

Auf dem Weg in meine Wohnung machte ich einen Schlenker in Frau Schecks Küche, um den Hirschbecher sicher zu stellen. Ich war mir sicher, dass sie sein Fehlen nicht bemerkte. In meinem Geschirr-Regal zwischen all den anderen Bechern fühlte er sich sicherlich wohl. Da gab es den weißen mit dem Biene-Maja-Aufdruck, den roten mit Wicki darauf, den blauen mit dem Marsipulami, die Becher mit Hähnen, Blumen, Kreismustern und nicht zuletzt die große gelbe Tasse mit dem roten Herzen, meinem absoluten Lieblingsstück, den Mara mir geschenkt hatte, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Was ich mit diesem Becher schon alles erlebt hatte, würde ein ganzes Buch füllen:

„Die abenteuerliche Geschichte einer Kaffeetasse, gewidmet Mara Blumenberg."

Ach Mara! Wäre sie jetzt nicht stolz auf mich, wenigstens ein bisschen? Nein. Die Sache mit dem Geist würde sie mir nicht abkaufen. Das brauchte ich ihr gar nicht erst zu erzählen. Auch nicht schreiben, oder am Telefon ins Ohr flüstern. Pappmaché-Monster bauen und damit die Leute verarschen, das war gerade noch gegangen. Wenn ich schon wieder mit meinen Geschichten kam, war endgültig Ebbe im See. Eine Silva Mystica schickte ich ihr besser auch nicht.

Amanda lag auf dem Sofa. Von meiner Rückkehr nahm sie kaum Notiz. Ihr Kopf war wieder weiß, die Augen schwarz umrahmt. Alles wie gehabt. Ich kraulte ihr den Kopf.

„Dein Artgenosse hat seinen Frieden gefunden! Hoffe ich zumindest. Wie viele seiner sieben Leben er schon hinter sich hat, weiß ich jedoch nicht. Vielleicht begegnen wir ihm ja noch einmal wieder!"

Die Zeitschriften mussten endlich in ihre Umschläge, und eigentlich hatte ich mir vorgenommen sie noch vor der Arbeit zur Post zu bringen. An ein Schläfchen auf dem Sofa war daher nicht zu denken.

Nachdem ich mich geduscht, frisiert und den Bart gekämmt hatte, legte ich mir auf dem Küchentisch zurecht was ich benötigte: die Briefmarkenbögen, die Umschläge, einen Kugelschreiber, den Waschschwamm aus dem Badezimmer in einem Teller mit Wasser. Ich hatte keinen Spaß achtzig Briefumschläge und achtzig Marken mit der Zunge anzufeuchten.

Während ich eintütete, klebte und beschriftete, der Kaffee durch den Filter lief, das Brot im Toaster bräunte, rechnete ich mir im Kopf meine Gewinne und Verluste aus. Achtzig mal fünf Mark Einnahmen minus Ausgaben für Druckkosten, Umschläge, Briefmarken, das waren am Ende etwa 250 Mark, die mir blieben. Das reichte wahrscheinlich gerade für die Renovierung meines Schlafzimmers. Wenn überhaupt! Der nächste Lohn von Hieronymus kam erst Anfang September und mein Konto war so gut wie geplündert. Ich konnte mir nicht helfen, der Gedanke daran deprimierte mich. Zwar lag in der Küchenschublade nach wie vor der Umschlag mit den zusammengesparten 2000 Mark in kleinen Scheinen, doch die waren reserviert für eine Rundreise durch Schweden, die ich schon seit Jahren plante.

Es war noch keine acht Uhr als ich die fertigen Umschläge zurück in den Karton stapelte, für Amanda das Küchenfenster öffnete und kurze Zeit später über den Marktplatz zur Hauptpost radelte. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass zu dieser frühen Stunde schon so viele Menschen Marken kaufen, Briefe und Pakete aufgeben oder Telegramme verschicken würden. Als ich mich in die Schlange einreihte und die vor mir Wartenden zählte, zweifelte ich daran heute pünktlich zur Arbeit zu kommen. Ich konnte einen Trick anwenden, der damals in der Schule, beim Warten am Kiosk, schon einmal prima funktioniert hatte. Mehr aus Jux als aus Berechnung hatte ich „Achtung, Handgranate gerufen!", woraufhin sich die Warteschlange vor mir mit Gerenne und Gekreische auflöste, und ich in Ruhe meinen Trinkkakao und das Schokokussbrötchen kaufen konnte. Erst hinterher war mir klar geworden weshalb das so gut funktioniert hatte: erst vor wenigen Wochen, im September 1972, hatten palästinensische Terroristen in München elf israelische Olympia-Teilnehmer ermordet, unter anderem mit dem Wurf einer Handgranate in einen Helikopter. Über Tage hatte das Fernsehen kein anderes Thema gekannt. Das Gespräch beim Schulleiter, an dem auch meine Eltern teilnahmen, war nicht erfreulich gewesen.

Während ich darauf wartete, dass sich die Schlange weiter bewegte, betrachtete ich ausgiebig das aktuelle Fahndungsplakat des Bundeskriminalamts. Es war nun nicht mehr schwarzweiß, wie die vorhergehenden Plakate, sondern in auffälligem Signalgelb und Alarmrot gedruckt. Man musste einfach hingucken, ob man wollte oder nicht. Die prominentesten Gesichter waren natürlich längst nicht mehr dabei: Baader, Meinhof, Ensslin, Meins, Raspe. Dafür waren neue hinzu gekommen: Albrecht, Klar, Schulz. Bei Schulz zuckte ich zusammen. Ich stellte mir vor wie es wäre, mein Gesicht auf diesem Plakat zu sehen. Ob Rebecca mich verpfiffen hätte? Oder Hieronymus? Dumme Frage. Als Allererste hätte die Scheck mich gemeldet.

Ich war dermaßen in die Betrachtung der Verbrecherfotos vertieft, dass ich nicht bemerkte wie die Schlange vor mir immer kürzer wurde und ich schließlich allein vor dem Schalter stand.

„Noch zu früh für sie, was!"

Der Postbeamte mit den Wahnsinnskoteletten und der blonden Lockenpracht grinste mich an. Ich brauchte keinen Spiegel, die dunklen Augenringe und die Tränensäcke im Gesicht spürte ich bei jeder Zuckung. Nachdem ich ihm den Karton auf den Tresen gewuchtet hatte, begann ihn der Lockenmann ruhig und äußerst konzentriert auszupacken. Umschlag für Umschlag zog er heraus, kontrollierte die Frankierung, überflog die Empfängeradressen, wog anschließend jede Sendung und legte sie in eine gelbe Kunststoffkiste zu seinen Füßen.

Es dauerte eine gefühlte Unendlichkeit, und in einer Viertelstunde musste ich im Copyshop sein. Ich sah an dem Lockenmann vorbei, durch das große Fenster, das hinausging auf den morgendlichen Marktplatz. Die Leute trugen zu meinem Erstaunen noch immer kurze Hosen, Röcke und T-Shirts. Es war also doch noch nicht Herbst geworden.

Punkt neun bog ich auf den unkrautüberwucherten Parkplatz des Copyshops ein. Während ich hastig das Rad anschloss, warf ich einen Blick in den Laden. Hieronymus' Haar war klitschnass und klbete ihm am Nacken, unter seinen Achseln zeigten sich dunkle Schweißflecken. In einem atemberaubenden Tempo schleppte er Papierpakete von einem Ende des Ladens zum anderen. Zwischendurch beugte er sich immer wieder über einen offen stehenden Kopierer, zog den Stecker heraus, steckte ihn wieder ein, drückte auf den Bedienknöpfen herum und rüttelte am Gehäuse. Ich wusste wie es Hieronymus und seinen Geschäften ging. Nicht besonders gut. Als einer der Ersten am Südharz hatte er 1978 einen Kopierladen eröffnet und war dabei ein hohes Risiko eingegangen. Über 50.000 Mark hatte er für die sechs Kopiergeräte berappen müssen. Bis heute gab es nicht genügend Menschen in dieser Gegend, die kopieren wollten, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass das in Zukunft einmal anders sein würde.

Hieronymus war allein im Laden. Rebecca konnte ich nirgends entdecken. Nach der letzten Nacht würde es einem Wunder gleichkommen, wenn sie hier heute noch auftauchte.


Lupo Scholz dreht auf (Fantasy/Humor)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt