25. Zerbombtes Huhn und Zukunftsfragen

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In den folgenden Tagen arbeitete ich Bernd, unseren neuen Praktikanten ein. Er war sechzehn und ging, genau wie Rebecca, auf das städtische Gymnasium. Bei Bernd bestand nicht die Gefahr, dass ich ihn zu einem abendlichen Kaffee einlud. Bereits beim Vorstellungsgespräch offenbarte er uns seine politische Gesinnung, obwohl weder Hieronymus noch ich danach gefragt hatten.

Bernd engagierte sich bei der örtlichen Jungen Union, wollte nach der Schule in Göttingen Jura studieren und danach in die große Politik gehen. Sein alter Herr hatte ihm geraten sich einen Blut-und-Schweiß-Job zu besorgen, um das Leben der hart arbeitenden Bevölkerung kennenzulernen. Außerdem würden es die Kollegen in der Burschenschaft gern sehen, wenn ein Neuankömmling schon einmal probeweise den Buckel krumm gemacht hatte.

Es fehlte mir an Fantasie, um eine Vorstellung davon zu entwickeln weshalb Hieronymus ihn genommen hatte. Allerdings war Bernd umgänglich, bemühte sich um Höflichkeit gegenüber den Kunden. Er erledigte seine Aufgaben und hielt die meiste Zeit über die Klappe.


Ich schrieb einer erste Grobversion der zweiten Ausgabe von Silva Mystica.


Zweimal innerhalb weniger Tage brachte Frau Scheck mir einen Kuchen. Erst eine Erdbeertorte, danach einen gedeckten Apfelkuchen.

„Apple Pie, Herr Scholz!" Dabei leuchtete ihr Gesicht wie das einer jungen Frau. „Sie ahnen ja nicht woher ich das Rezept habe!"

In der Tat, ich hatte keine Ahnung. Aus einem Backbuch vielleicht?

Ich schüttelte den Kopf. „Sagen sie 's mir!"

Es war wieder einer dieser heißen Sommertage. Die offen stehende Wohnungstür sorgte für eine angenehm kühle Brise. Also blieb ich einfach stehen und lauschte Frau Schecks Erzählung, in der Hand den schwerer werdenden Apfelkuchen.

„1945, als die Engländer in Grubenhagen einmarschierten, hat sich in ihrer Wohnung hier ein junger britischer Offizier eingemietet. Naja, was Einmieten damals so bedeutete. Er hat sich die Wohnung genommen, einfach so. Sie stand ja leer. Ständig hat er mir in den Ohren gelegen wie lieb und nett seine Verlobte in Sussex doch sei, und was für einen fantastischen Apple Pie sie backen würde. Er hat mir leid getan, der Tommy, verstehen sie?"

Okay, dachte ich, jetzt kommt die große Lebensbeichte.

„Also gab er mir das Rezept, ich buk ihm den Apfelkuchen, und danach ... Naja, was man als alleinstehende Frau halt so machte. Mein Mann war ja damals noch nicht mein Mann. Er kam ja auch erst 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurück."

Ich nickte verständnisvoll. So weit war das vertrauensvolle Verhältnis zwischen uns also schon gediehen, dass sie mir ihre Jugendsünden offenbarte.

„Denken sie jetzt aber bloß nicht ...!" Sie legte die Hand auf ihren Mund und kicherte heiser, wobei sich ihr faltiges Gesicht knautschte wie die Schale eines eingelagerten Apfels.

Natürlich vergaß Frau Scheck nicht, mich auf meine verschnittenen Haare aufmerksam zu machen.

„So können sie doch nicht herumlaufen! Entweder lang, oder kurz. Sie müssen sich schon entscheiden! Wissen sie was, ich spendiere ihnen einen Schnitt bei Fritsch dem Frisör! Nächste Woche Dienstag?"

Ich sagte spontan zu.

„Nächste Woche Dienstag!"


Am Ende der Woche konkretisierte meine Mutter noch einmal das gemeinsame Essen am kommenden Sonntag. Es sollte Hühnerfrikassee geben, davor eine Suppe und hinterher einen Überraschungsnachtisch. Für das unschuldige Gericht tat es mir leid, aber schon als Junge hatte ich zerbombtes Huhn verabscheut, was vielleicht daran gelegen hatte, dass es bei meiner Mutter immer genau so aussah: Als hätte jemand eine Handgranate in den Kochtopf geschmissen. Und das Auge, das isst ja schließlich immer mit! Helle Fleischfetzen in saurer Soße, mit Erbsen und Möhren aus der Dose, weich gekochtem Spargel, dazu matschige Salzkartoffeln. Für mich hatte es immer ausgehen wie schon einmal gegessen.

„Der Horst wird kochen. Er hat da so ein besonderes Rezept von seiner Mutter!"

Gut, dachte ich, wer in die Hölle will darf den Teufel nicht fürchten. Schlimmer konnte es in Bezug auf Frikassee nicht mehr kommen. Immer mutig, Lupo! Immer mutig! Als ich den Hörer zurück auf die Gabel legte fühlte ich mich schlecht. Was war ich doch für ein undankbarer Sohn! Ich sollte Mama Beauty einen Strauß Blumen mitbringen!

Wir hatten uns für ein Uhr verabredet. Beauty meinte jedoch es sei besser, wenn ich schon um Viertel vor eins da sei, dann könnten wir pünktlich essen. Der Horst sei da recht eigen. Außerdem könne ich gern noch jemanden mitbringen.

Aha, das war also des Pudels Kern!

„An wen hast du da so gedacht, Mama? An meine Katze, meine Hausmeisterin Frau Scheck?" Den ironischen Unterton in meiner Stimme überhörte Beauty geflissentlich. Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie die Ironie nicht verstanden hatte. An diesem Punkt waren wir uns schon immer fremd gewesen.

„Die Mara, ich meine die Mara. Bring die doch mit! So ein nettes Mädchen!"

Ja, ausgesprochen nett, dachte ich. Und schlau, und sehr ansehnlich. Vielleicht jedoch zu nett, zu intelligent und zu hübsch für einen Herumstreuner wie mich. Meine Selbstzweifel behielt ich für mich.

Mama Beauty war in fast allem anders als gewöhnliche Mütter, in einem Punkt jedoch exakt wie alle anderen: es interessierte sie brennend wann ich zu heiraten gedachte, wie es mit Kindern stünde. Über berufliche Dinge unterhielten wir uns schon lange nicht mehr.

„Ich habe die Karten gelegt. Wir müssen dringend reden!"

Weihnachten 1979 hatte Mama Beauty Tarotkarten für sich entdeckt. Seit Ewigkeiten schon war sie Mitglied im Bertelsmann-Buchclub. Alle paar Monate war sie angehalten ein Buch, eine Schallplatte, ein Spiel oder etwas anderes aus dem Angebot zu kaufen. Bücher verstaubten meist noch eingeschweißt im Wohnzimmerschrank, die Schallplatten bekam ich, Spiele wurden an Nachbarskinder verschenkt oder an die Verwandtschaft in der DDR geschickt.

Das Tarotkarten-Einsteigerset war auch einer dieser Verlegenheitskäufe gewesen. Monatelang hatte es unausgepackt auf dem Fernsehgerät gelegen, bis sie es aus lauter Langeweile am zweiten Weihnachtsfeiertag 1979 aufriss, in der Annahme es seien ganz gewöhnliche Spielkarten darin, mit denen die Kleinfamilie eine gepflegte Runde Schwimmen oder Mau-Mau spielen konnte. Zu ihrer völligen Überraschung handelte es sich jedoch um Karten, mit denen sich die Zukunft voraussagen ließ.

Bereits drei Tage später hatte Beauty die Schicksale sämtlicher Verwandter, Freunde und Nachbarn ausgedeutet. Selbst Schalka, der rabenschwarze Pudel von Hornbergs nebenan wurde nicht verschont. Ihm sagte sie einen unnatürlichen Tod im Jahr 1980 voraus, was auch prompt zutraf. Schalka lief vor den Eiswagen „San Marco", als dieser durch die Wohnsiedlung fuhr. Den am Straßenrand wartenden Kindern war auf einen Schlag die Lust am Süßen vergangen, denn nach der Kollision mit dem Auto hatte Schalka so gar nichts mehr mit dem Aussehen eines Hundes gemein. Eher sah er aus als hätte jemand Himbeereis mit Stracciatella verknetet.

Ich staunte wie rasant sich Mama Beauty in die eigenartige Welt dieser bunten Karten, mit ihren bizarren Gesetzmäßigkeiten eingefunden hatte. Es war als hätte sie niemals etwas anderes getan.


Lupo Scholz dreht auf (Fantasy/Humor)Where stories live. Discover now