12. Wärmeausdehnungskoeffizient

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Um es kurz zu machen: ich ertrug keine geschlossenen Klotüren. Was kein Problem darstellte so lange ich allein in der Wohnung war. Doch wenn ich Besuch hatte, was ab und zu vorkam, wurde es spannend. Ich setzte mich auf die Brille und nahm mir eine der welligen Spiegel-Ausgaben aus dem Zeitungshalter. Das Titelbild zeigte eine Illustration des neuen Traumpaares Charles und Diana. „Hochzeit auf englisch" lautete der Aufmacher. Lustlos begann ich zu blättern. Draußen in der Küche klimperte Glas, der Wasserhahn wurde aufgedreht. Dann Schritte über die Flurdielen ins Wohnzimmer. Ich hörte wie Rebecca den Karton öffnete. Diese Frau war mir etwas zu neugierig!

Ich blätterte ein paar Seiten weiter. Gerade hatte ich mich in einem Artikel über die neue US-Serie Dallas fest gelesen, als ich draußen im Flur ein Geräusch hörte. Jemand war an der Klotür. Ich hatte keinen blassen Schimmer was ich befürchtet hatte, doch als ich Amandas schlanken Körper erblickte, fiel mir ein riesiger Stein vom Herzen. Ich wusste was sie wollte. Aus dem kleinen Holzregal neben dem Waschbecken angelte ich eine Rolle Toilettenpapier, löste das erste Blatt und schmiss sie in Richtung Tür.

Wie erwartet geriet Amanda außer sich und stürzte sich voller Eifer auf die Klopapierschlange, wobei sie sich auch heute wieder nicht entscheiden konnte ob sie erst zubeißen oder sie mit den Krallen packen sollte. In kürzester Zeit hatte sie sich in dem Papierknäuel verfangen und sah aus wie die einbalsamierte Katze von Ramses II.

Die Flurdielen knarrten erneut, die Tür wurde aufgedrückt. Rebecca steckte ihren Kopf herein. Vor der Brust hielt sie ein hohes, schlankes Glasgefäß, das mit einer roten Flüssigkeit gefüllt war. Zunächst dachte ich an das Modell einer Rakete. Dann sah ich das Kabel, welches auf der einen Seite heraushing und in einem Stecker endete, der neben Rebecca auf dem Boden lag.

„Magst du Lavalampen?"

Hektisch versuchte ich die Zeitung auseinander zu ziehen, sie größer zu machen während ich sie mir vor den Schambereich zog.

Ich schluckte.

„Können wir das bitte gleich klären wenn ..."

Rebecca lehnte sich in den Türrahmen und grinste anzüglich. Erst jetzt sah ich, dass sie sich die Lippen grellrot geschminkt hatte. Das sah nach Angriffsmodus aus!

„Warum so verklemmt, Lupo?"

Ich sah die vierzehnjährige Rebecca im elterlichen Wohnzimmer hocken, auf dem Schoß ein altes Fotoalbum, und von den wilden Sechziger Jahren mit freier Liebe, klassenlosem WG-Leben und Hausbesetzungen träumen.

Ich biss mir auf die Zunge, denn ich wollte ja, dass Rebecca sich bei mir wohl fühlte. Immer nur die Katze an den Füßen, die mir Wärme spendete, war auf Dauer doch zu wenig.

Ich ließ die Zeitung sinken.

„Gut, komm doch rein!"

Das wollte sie dann doch nicht. Sie verschwand wieder im Flur und zog mit viel Schwung die Tür hinter sich zu. Mit einem satten Klacken fiel sie ins Schloss. Ich spürte wie mir im Nacken der Schweiß ausbrach.

Draußen hörte ich sie maulen: „Wollte doch nur wegen der Lampe ...!"

Ich rief, so laut, dass Amanda sich erschreckte: „Ich liebe Lavalampen! Ganz besonders die roten!"

Was war ich für ein Idiot.

Als ich ins Wohnzimmer kam, war von Rebecca nichts zu sehen. Na ja, dachte ich, das bewahrt mich vor Dummheiten. Der Anrufbeantworter blinkte. Ich drückte auf den Wiedergabeknopf. Es rauschte und knackte im Lautsprecher, dann ertönte Frau Schecks Stimme. Höflich, aber eindringlich erkundigte sie sich nach dem Stand der Dinge. Ob ich dem Spuk schon ein Ende bereitet hätte und sie in ihre Wohnung zurückkehren konnte. Ihre Schwester würde miserabel kochen und schon jetzt hätte sie die Nase voll von ihr. Ich fasste mir ein Herz und rief sie zurück.

„Es dauert noch ein Weilchen! Wir wollen es ja ordentlich machen!"

Das verstand Frau Scheck. Sie versprach tapfer durchzuhalten. Ich jedoch hatte noch immer keinen Schimmer wie ich den alten Scheck zur ewigen Ruhe bewegen konnte.

Als ich den Telefonhörer zurück auf die Gabel legte, fiel mir auf, dass die Schlafzimmertür offen stand. Normalerweise hielt ich sie tagsüber geschlossen. Ein rotes Licht drang durch den Türschlitz. Ich dachte an die Wärmelampe meiner Mutter, unter die sie mich bei allen Beschwerden stets gezwungen hatte. Bei Husten, Muskelkater, Bauchschmerzen und verkrampfter Pobacke.

Vorsichtig drückte ich die Tür auf und erstarrte.

Auf meinem Nachttisch, der aus einer alten Orangenkiste bestand, stand die Lavalampe und blubberte fröhlich vor sich hin. Auf meinem Bett lag Rebecca, nur in Unterwäsche.

„Na, gefällt dir unsere kleine Liebeshöhle?", hauchte sie.

Gütiger Himmel! Was sollte das werden?

Wollte ich das überhaupt? Wie schlimm stand es um mich, dass ich mich mit unserer Praktikantin vergnügte? Sie versuchte mich mit dem Zeigefinger zu locken.

„Weißt du eigentlich wie so eine Lampe funktioniert? Komm, ich zeig's dir!"

Wollte sie mir einen Einführungskurs in Physik geben oder mit mir in die Kiste hüpfen? Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante.

„Zwei ineinander nicht lösliche Stoffe, gleiche Dichte, verschiedene Wärmeausdehnungskoeffizienten ..."

An dieser Stelle hätte ich stutzig werden müssen. Wurde ich aber nicht. Woher wusste sie so ein Zeug? Wie ein kleiner Junge saß ich da, der sich von seiner Mama erklären ließ woher die Babies kamen.

Das rote Licht, die pulsierenden, träge aufsteigenden Glibbergebilde machten mich benommen. Genau so musste es für ein Ungeborenes im Mutterleib aussehen, wenn es dort Licht gäbe.

Es war so schön, so beruhigend, so zeitlos tiefgründig.


Lupo Scholz dreht auf (Fantasy/Humor)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt