46. Eis, Tabletten, Zigarettenqualm

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Sie schloss theatralisch die Augen und schüttelte leicht den Kopf. Dann flüsterte sie: „Nicht hier, Herr Scholz! Trinken wir doch einen Kaffee zusammen." Ich dachte nach. Wo in aller Welt konnte ich mit Frau Schlesinger, die in Grubenhagen bekannt war wie ein bunter Hund, ungestört reden und einen Kaffee trinken, ohne dass die Lokalzeitung am nächsten Tag darüber mutmaßen würde, was sie mit diesem frisch frisierten, jungen Mann so Wichtiges zu besprechen hatte?

Sollten wir uns zu mir in die Küche setzen? Unmöglich! Im Café an der Marktkirche? Nein. Es war zwar chic und teuer, doch trafen sich da überwiegend Rentnerinnen zu ihren Kaffeekränzchen, und wie die ihre faltigen Ohren ausfuhren, wenn es darauf ankam, das wusste man ja!

„Was halten sie von dem kleinen Eiscafé gleich um die Ecke, dem Santana?"

Frau Schlesinger reckte den Daumen nach oben.

„Gute Wahl, Herr Scholz! Ich brauche ein gutes italienisches Sprudelwasser!" Sie fächelte sich mit ihrer flachen Gucci-Handtasche Luft zu.

Hatten wir nicht gerade noch von Kaffee gesprochen? Na egal!

Bei Enrico gab es kleine versteckte Sitznischen, in denen man sich ungestört unterhalten konnte. Nein, ich musste nicht mit der Tierpark-Königin von Grubenhagen gesehen werden, zumal es da ja auch noch diese äußerst dubiose Geschichte mit ..., aber das war etwas völlig Anderes gewesen, und gehörte nicht hierher.

Wir einigten uns darauf, dass ich schon einmal vorgehen sollte. Frau Schlesinger wollte noch etwas in der Apotheke besorgen und dann gegen eins nachkommen. Zwanzig Minuten Wartezeit, das war in Ordnung. Ich dankte Fritsch für den Schnitt und meiner Nachbarin Frau Scheck für die Bezahlung.

„Sie hatten eben noch was gut bei mir, sie Schlingel!" Sie tätschelte mir den Unterarm. Jetzt war ich schon ein Schlingel, und sie hatte mir einen Auftrag vermittelt. Unser Vertrauensverhältnis wurde immer besser. Beim Hinausgehen flüsterte sie mir noch zu: „Ich hoffe, dass sie Doro helfen können, sie leidet wirklich sehr!"

„Woher kennen sie beide sich eigentlich?"

Frau Scheck grinste.

„Ich habe über zwanzig Jahre lang für sie gearbeitet."

„Im Tierpark?"

„Nein. Da gab es den Tierpark noch gar nicht!"

Ich sah meine Nachbarin fragend an.

„Ich erzähle ihnen bei anderer Gelegenheit davon. Vielleicht wenn ich ihnen das nächste Mal einen Kuchen bringe. Marmorkuchen, ist das in Ordnung?"

Ich nickte.

Doro Schlesinger trug eine große Sonnenbrille, die ihr das Aussehen eines riesiges Insekts verlieh. Hoffentlich stach es nicht. Sie ließ die Brille auch noch auf, als sie sich zu mir an den Tisch setzte. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu ihrem perfekt gestylten Äußeren. An den Handgelenken trug sie mehrere teuer aussehende Armreifen, die lustig klimperten während sie Handtasche und Einkaufstüte abstellte und sich das Kostüm glatt zog. Ich erriet, was sich in der Apothekentüte befand und war gespannt, ob ich recht behielt. Jetzt schob sich Frau Schlesinger die Brille ins Haar und blickte ungläubig auf meine Kaffeetasse.

„Sie trinken Kaffee, bei dieser Affenhitze? Ach, ich weiß nicht. Ob ich vielleicht auch ..., oder doch ein Wasser?"

Enrico kam und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Er schien Doro Schlesinger nicht zu kennen.

„Seniora!" Wieder sah er mich an und zwinkerte mir zu. „Was darf ich bringen? Eine Kaffee, eine Espresso oder eine leckere Eisbecher?"

Frau Schlesinger schien nicht in der Verfassung, eine schnelle Entscheidung zu treffen. Und Schnelligkeit war bei Enrico wichtig, denn wenn man zu lange überlegte, die Karte einen Moment zu ausführlich studierte, dann war er wieder weg und bediente den nächsten Kunden.

„Nur ein Glas Wasser mit Eis und Zitrone. Danke!"

Sie probierte ein Lächeln, das ihr nicht recht gelang, dann zog sie die Apothekentüte auf ihren Schoß und begann darin herumzukramen. Nacheinander legte sie eine Packung Magentabletten, eine Packung Kopfschmerzmittel, Beruhigungsdragées und ein Päckchen Schlaftabletten auf das Tischchen. Ich hatte noch ein Röhrchen Magnesiumtabletten gesehen, doch da hatte ich mich wohl vertan.

Was hatte die Schlesinger vor? Wollte sie sich in Enricos Eispalast, am helllichten Tage vergiften? Sie schob die Päckchen zurück in die Tüte. Nur eine Kopfschmerztablette ließ sie draußen. Nachdem Enrico das Wasser gebracht hatte, spülte sie sie mit einem großen Schluck herunter. Niemand präsentierte einem wildfremden Menschen beim ersten Treffen seine Drogensammlung, es sein, denn derjenige will mit seinem Tun eine Botschaft übermitteln. Doro Schlesingers Botschaft war Weißgott nicht schwer zu entziffern. Es ging ihr schlecht. Sie litt unter Stress, innerer Unruhe und schlief schlecht. Klar hätte ich sie fragen können, weshalb es ihr so mies ging, hätte sie nach ihrem Befinden fragen können, doch wollte ich Distanz wahren. Ich war ja nicht ihr Therapeut. Dies hier war ein rein geschäftliches Gespräch. Ich wollte Frau Schlesinger nicht zur Freundin haben. Außerdem war ich mir sicher, dass sie mir früher oder später von sich aus alles erzählen würde.

Sie kennen sich doch mit so was aus! Wie verzweifelt muss eine Tierparkdirektorin sein, das sie sich an einen Möchtegernermittler wie mich wandte? Langsam wurde ich neugierig, was sie eigentlich von mir wollte.

Erst die Tablette, jetzt die Zigarette. Frau Schlesinger zog eine Roth- Händle aus ihrer Handtasche. Enrico eilte herbei und streckte ihr sein Feuerzeug entgegen. Eine echter Gentleman! Da konnte ich mir noch so manches abgucken. Würde Mara rauchen, ihr würde ihr den ganzen Tag und die ganze Nacht lang Zigaretten anzünden. Wir würden im offenen Fenster sitzen, auf den nächtlichen Wald vor dem funkelnden Sternenhimmel blicken und dicke Rauchwolken in die Dunkelheit blasen. Irgendwann wäre der Qualm so dicht, dass wir aus dem Fenster steigen und uns in die Rauchwolken setzen könnten. Wir würde nur mit den Armen rudern müssen und würden fliegen, wohin auch immer wir wollten. Weg. Weit, weit weg.

Ich schreckte hoch. Es war ewig her, dass ich geraucht hatte. War ich vierzehn gewesen, oder fünfzehn? Auf jeden Fall war es die Zeit, in der ich bei meinem Onkel im Matratzengeschäft ausgeholfen hatte. Alle hatten mich den Bettboy genannt, weil ich, besonders den Kundinnen, so charmant die Vorzüge der neuen Federkernmatratze „Bochum" erklärt hatte, bis diese nicht nur zum Kauf, sondern auch zu mehr bereit gewesen waren. Zumindest hatte ich mir das eingebildet. Nachdem sie bezahlt und das Geschäft verlassen hatten, klopfte mein Onkel mir gern auf den Rücken und sagte: „Erst machst du sie scharf, und dann lässt du sie abblitzen. Bist schon so ein richtiger Badboy!" Ich glaube nicht, dass ich seine Worte damals wirklich verstanden hatte. Bettboy, Badboy. Beides waren scheußliche Worte für einen so netten Kerl wie mich. Sie missachteten völlig wie ich dachte, wie ich fühlte, wie ich wirklich war. Nein, ich wollte nicht noch einmal vierzehn sein!

Doro Schlesinger nahm einen weiteren Zug und blies den Rauch mit spitzem Mund und leicht geschlossenen Augen an die getäfelte Decke.

„Sie erfahren jetzt etwas, worüber die Zeitungen im Allgemeinen schweigen, weil sie nichts darüber wissen. Ich habe eine jüngere Schwester, Herr Scholz, die ich sehr liebe. Sie ist verschwunden. Seit zwei Wochen. Spurlos. Normalerweise ruft sie an, oder schreibt eine Karte. Hier!" Sie schob mir eine Hochglanzpostkarte über den Tisch. Tannen, Hirsche, Wildschweine. Ein geschwungener Schriftzug. „Viele Grüße aus dem schönen Harz!" Ich nahm die Karte und drehte sie um. Zwei handgeschriebene Zeilen und ein aufgeklebtes Foto, darauf ein finster dreiblickender Mann mit Rauschebart und wilder Lockenmähne.

„Sie hat einen Kerl aufgegabelt, wieder mal. Doch dieses Mal ist es anders. lesen sie doch!" Ich besah mir die Handschrift genauer. Sie war mit einem Füller geschrieben worden. Mit rote Tinte, der Farbe der Liebe, der Wollust, der Rache.

Liebes Schwesterherz! Es geht mir blendend. Habe endlich meinen Halbgott gefunden. Bin im siebten Himmel. Allerliebste Grüße, Deine Lisbeth"

Lupo Scholz dreht auf (Fantasy/Humor)Där berättelser lever. Upptäck nu