28. Heute ist heute, und nicht morgen

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Sven spielte mit der leeren Bierflasche herum und stellte sie dann auf den Stubentisch.

„Schon mal mit dem Gedanken gespielt abzuhauen, irgendwo anders einen Job zu suchen?"

Konnte Sven Gedanken lesen? Ich fühlte mich ertappt. Meine Pläne einfach so preiszugeben kam jedoch nicht in Frage. Stattdessen kam ich Sven philosophisch.

„Das Problem bei jeder Flucht ist doch: du nimmst dich immer selber mit. Du kannst vor anderen Leuten oder den äußeren Umständen davonlaufen, aber nicht vor dir selbst!"

Sven nickt zustimmend.

„Schon verstanden, Kumpel! Willst du reden?" Er grinste, und ich spürte, Sven war im Verarsche-Modus.

„Außerdem wärst du dann viel zu weit weg von deiner Mara ..."

Ich legte ihm den Zeigefinger auf die Brust. „Du hast es erfasst!"

Sven schnaufte wie ein altes Dampfross. Das tat er immer wenn ein Thema für ihn erledigt war.

„Aber die Reise nach Schweden nächsten Sommer steht?"

Ich deutete auf den Küchenschrank, in dessen rechter Schublade die gesparten zweitausend Mark und mein Reisepass lagen.

Wie locker leicht es mir gelang den morgigen Termin bei Lauenstein zu verdrängen. Ein bisschen über das Reisen, die Flucht in eine andere Wirklichkeit fabulieren, ein kühles Bierchen mit einem guten Freund trinken, fertig war die Parallelwelt. Ganz ohne Portale.

„Lust auf eine kleine Tour?" Sven zwinkerte mir schelmisch zu.

Noch vor ein paar Jahren war kein Wochenende vergangen, an dem ich nicht durch die Kneipen der Stadt gezogen war. Selten war ich allein nach Hause zurück gekehrt. Seit Abbruch des Studiums und der Rückkehr nach Grubenhagen war ich nur ganze zwei oder drei Mal auf Tour gewesen. Auf der letzten hatte ich Mara kennengelernt.

Als Sven bemerkte, dass ich nicht abgeneigt war, wurde er lebendig. Er sprang vom Sofa hoch, wobei er mit dem Knie gegen den Stubentisch knallte und die Bierflaschen herunter kullerten, und zog sich das T-Shirt wieder über den behaarten Bauch.

„Start im Depot, Ziel im Cartoon! Die Zwischenstationen legen wir spontan unterwegs fest!"

Ich war vollauf einverstanden, und plötzlich war es geschehen: ich hatte den Sonntagsgottesdienst und Lauensteins Vorladung komplett aus meinem Gedächtnis gelöscht.

Unsere Tour durch die Vergnügungsstätten Grubenhagens dauerte bis drei Uhr morgens. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es in diesem kleinen Städtchen so viele Kneipen gab. Noch erstaunter war ich wie viele ehemalige Mitschülerinnen und Mitschüler noch immer in der Stadt waren. Ich war immer davon ausgegangen, dass nach dem Abitur mindestens dreiviertel meines Jahrgangs fluchtartig die Stadt verlassen hatten. Wollten sie nicht weg, oder konnten sie nicht? Waren sie schon weg gewesen und nun zurück gekehrt? Ich wusste es nicht, und ich fragte auch nicht danach. Ich fürchtete mich vor deprimierenden Antworten.

Nicht alle sprach ich an, manche sah ich nur von weitem. Die meisten Gespräche waren kurz und oberflächlich. Doch ich traf auch andere Leute, mit denen ich früher viel zu tun gehabt hatte. Es interessierte mich was aus ihnen geworden war.

Zum Beispiel Thomas. Er war Realschullehrer geworden. Oder Lars, der in der Redaktion des Grubenhagen Kuriers seinen Platz gefunden hatte. Susanne mit den roten Locken war die rechte Hand des Chefs vom Waldhotel geworden, und Erik hatte doch noch den Hof seines Vaters übernommen obwohl er Berufssoldat hatte werden wollen. Ich fand Kühe melken irgendwie besser, als die Vorstellung irgendwann in irgendeinem Krieg Leute totschießen zu müssen.

Erik war es, der mir von Stefan erzählte, welcher nach West-Berlin gegangen und sich einer kommunistischen Untergrundgruppe angeschlossen hatte, angeblich gefährlicher als die RAF. Woher er das wisse, fragte ich ihn, über Leute im Untergrund erfahre man doch nichts, deshalb seien sie ja im Untergrund. Er sah mich nur blöd an, genau so blöd wie damals im Chemieunterricht, als ich das Reagenzglas mit der brennbaren Flüssigkeit über den Bunsenbrenner gehalten habe, obwohl Herr Prall uns extra darauf hingewiesen hatte, es nicht zu tun. Noch heute tat es mir in der Seele leid, wie selbstlos Herr Prall seine teure Lederjacke als Löschdecke hatte missbrauchen müssen, um der hoch aufschießenden Flammen auch nur annähernd Herr zu werden. Nicht einmal als Putzlappen hätte man sie hinterher gebrauchen können.

Das Terroristenplakat in der Hauptpost fiel mir wieder ein, und plötzlich schienen mir die düsteren Schwarzweißfotos keine Zeugnisse mehr aus einer anderen Welt zu sein, einer, die mich einen feuchten Kehricht anging, sondern sie hatten mit mir, meinem Leben, ganz konkret mit dem hier und jetzt zu tun. Diese Erkenntnis ließ mich für einen Moment sprachlos werden. Erik musste mich erst kräftig über den Tisch hinweg anstupsen und Sven mir mehrmals auf die Schulter klopfen, bevor ich mich von meinen düsteren Gedanken zu lösen vermochte. Vielleicht fand ich in Wirklichkeit toll, was Stefan gemacht hatte. Nicht so sehr den ganzen ideologischen Politikquatsch, dem er sich scheinbar unterworfen hatte, von seiner offensichtlichen Gewaltbereitschaft ganz zu schweigen. Das Abtauchen, das In-der-Versenkung-verschwinden war es, das meine vollste Sympathie genoss. Warum war das so? Mir gruselte vor meinen eigenen Ideen.

Stefan hatte sich von allem Gewohnten, Etablierten, hatte sich von allen Traditionen gelöst und war seinen eigenen Weg gegangen.

Ich hatte immerhin einen Geist vertrieben. Das war auch was Besonderes, etwas, das nicht jeder konnte! In meiner nächsten Umgebung kannte ich niemanden, der es auch nur ansatzweise versucht hatte. Karten legende Mütter gehörten wohl auch nicht dazu.

Lupo Scholz dreht auf (Fantasy/Humor)Where stories live. Discover now