35. Anleitung zur Wittichjagd

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Sven schlief. Ich breitete ein angefeuchtetes Handtuch über seinem Rücken aus, so dass die Sonne seiner malträtierten Haut nicht noch weiter zusetzen konnte. Vor mir auf der Decke lag das schmale Büchlein, welches ich aus Lauensteins Büro hatte mitgehen lassen. Ein kleiner, wenn auch schwacher Trost für das, was seine Tochter mir hatte antun wollen. Der Titel des Buches lautete: Sie sind unter uns! Wittiche erkennen, testen und unschädlich machen. Ein praktischer Ratgeber von Pastor Hermann Otte.

Wie bitte? Was in Herrgotts Namen sollte denn das? Ich schlug das Büchlein auf. Hergestellt war es 1942 in einer kleinen Druckerei in Goslar, was einiges erklärte. Der Autor war Pastor gewesen, stand ja auf dem Umschlag. Nicht jedoch Pastor irgendeiner Gemeinde, sondern Pastor der Georgskirche! Otte war bis 1965 in Amt und Würden gewesen, und damit Lauensteins direkter Vorgänger. Da hatten sich wohl zwei echte Bösewichte die Hände gegeben! Wer weiß was Lauenstein bei Amtsantritt, außer den Testutensilien für die Wittichjagd und einer Riesenportion Naziideologie, noch so alles von Otte mit auf den Weg bekommen hatte. Bücher mit geheimen Beschwörungsformeln, magische Artefakte, Schlüssel für verborgene Türen?

Ich blätterte das Büchlein durch. Von vorn nach hinten und wieder zurück. Otte beschäftigte sich in seinem Werk mit der Existenz von Mischwesen, die seiner Überzeugung nach aus einer Verbindung von Mensch und Waldwesen entstanden sein sollten. Nach seiner Sicht lebten sie seit Anbeginn der Welt unter uns, meist unerkannt, unentdeckt, voller besonderer Fähigkeiten wie Hellsehen, Psychokinese, der Begabung Geister zu beschwören, Seelenwanderungen durchzuführen oder das Wetter zu beeinflussen. Alle diese Mischwesen nannte er Wittiche, und so talentiert er sie auch beschrieb, am Ende schilderte er sie als minderwertige Zwitterwesen, nicht gemacht für die irdische Welt, als Gefahr für die Menschheit. Seine Überzeugungen fasste er in einem selbstgedichteten, eher holprigen Vers zusammen.

Einer hinein, ein andrer hinaus,

so ist es schon seit ew'gen Zeiten.

Der Wittich greift nach deinem Haus,

will Einfluss seines Reiches weiten.

Daneben hatte jemand mit Bleistift einen weiteren Vers geschrieben. Ich konnte mir vorstellen wer hier seinem Meister nachgeeifert hatte.

Komm zu mir Wittich!

Kriech unter meinen Fittich!

Ich sperr dich ein wie'n Bergwerkssittich!

Ich ließ das Buch sinken. Das musste erst einmal verdaut werden! Rebecca hatte mich für einen Wittich gehalten, ihr Vater las die Schriften eines Nazi-Pastors, las sie nicht nur, sondern machte scheinbar genau dort weiter wo dieser aufgehört hatte, stiftete auch seine Söhne an, es ihm gleichzutun, entfachte einen Wettbewerb zwischen seinen Kindern, wer die meisten Wittiche fangen und unschädlich machen konnte.

Otte sparte nicht mit konkreten Namensnennungen, wie etwa Familie Abendheim, Familie Schickedanz, Gernot Fiedler, Hans Dönhoff, Johanna Schrader, alles Menschen, die in Grubenhagen lebten, und deren Nachfahren vielleicht noch immer hier ansässig waren.

Er berichtete von Versuchen, die er an einigen von ihnen durchgeführt hatte. Sie ähnelten sehr dem Hokuspokus, welchen Lauenstein veranstaltet hatte.

Schließlich glaubte Otte zu wissen, weshalb seine gehassten Wittiche in Grubenhagen so zahlreich anzutreffen waren. Schuld an allem war die Mönchshöhe, ein mächtiger Granitfelsen im Wald oberhalb der Stadt, den wir Kinder immer den Hasenhaufen genannt hatten, weil er in der Tat Ähnlichkeiten mit der Losung eines Riesenkaninchens hatte.

Ja, die Mönchshöhe kannte ich gut, und vielleicht lag es genau daran, dass Ottes perfide Hetzschrift nicht aus der Hand legen konnte, sondern begierig weiter las. Schon als kleiner Junge war ich häufig mit meinen Eltern dort oben gewesen, später allein oder mit Freunden, und war auf dem rauen, runden Felsen herumgeklettert. Im Frühjahr und Sommer war der Stein warm, man hatte von dort oben eine herrliche Aussicht über die Stadt und das Tal, die umliegenden Berge und Wälder.

Zwischen den Steinbrocken gab es schmale Spalten, in die man hineinkriechen konnte. Die meisten von ihnen endeten nach wenigen Metern, einige jedoch führten tief in den Fels hinein, ein wahres Labyrinth im Berg. Es gab auch einen Weg, der einmal durch den Felsblock hindurchführte, so dass man auf der anderen Seite wieder heraus kam.

Natürlich kannte jeder hier die Geschichten und Mythen, die sich um die Mönchshöhe rankten. Verschwundene Kinder, heidnischer Opferplatz, Tor zur Unterwelt, mittelalterliche Richtstätte, Ort magischer Kräfte. Angeblich sponnen dort oben die Kompassnadeln, blieben Uhren stehen, liefen langsamer oder sogar rückwärts.

Nach der Lektüre des Buches und meinen Erfahrungen mit den Lauensteins tippte ich, dass neunzig Prozent der Gerüchte der Wahrheit entsprachen. Otte vertrat die These, dass die Mönchshöhe seit frühester Zeit eine heidnische Kultstätte gewesen sei, ein Ort, an dem unsere Vorfahren die Waldgötter angebetet, mit Opfern besänftigt und sogar leibhaftig empfangen haben sollen, auch im körperlichen Sinne.

Ich blätterte weiter zum zweiten Teil des Buches, nicht ohne mich vergewissert zu haben, dass Svens Handtuch noch nass genug war.

In diesem Abschnitt wurde Otte konkret. Er beschrieb, wie man mit den aus einer Liaison zwischen Mensch und heidnischen Waldwesen hervorgegangenen Mischwesen umzugehen hatte. Da sie halb Mensch, halb magische Kreatur waren, hatten sie nach Ottes Darstellung nichts in der Menschenwelt verloren. Man musste sie suchen, finden, gefangen nehmen und zur Mönchshöhe zurückführen, bevor sie mit ihren heidnisch-unchristlichen, übernatürlichen Fähigkeiten Unheil anrichteten und den Frieden unter der Menschen gefährdeten.

Es folgten Übungen und Artefakte, die sich für das Auffinden und Festmachen eines Wittichs und ein anschließendes Testverfahren eigneten.

Otte schrieb: Der Wittich ähnelt in seinem Äußeren einem ganz normalen Bürger. Erst seine ungewöhnlichen Verhaltensweisen (er ist äußerst aufmerksam, ist flink mit dem Wort, hell im Geiste, weiß zu allem und jedem eine Antwort) und die besonderen Fähigkeiten (weiß Dinge bevor sie geschehen, kann Materie mit bloßer Willenskraft beeinflussen, hat prophetische Träume, kann Schriften und Bilder deuten, kann Gedanken lesen, findet schnell das Herz der Frauen) verraten ihn.

Keine der beschriebenen Verhaltensweisen oder Eigenschaften traf auf mich zu. Wie also wollte Rebecca, die mich offenbar über Wochen genauestens beobachtet hatte, herausgefunden haben, dass ich ein Wittich war?

Es folgten geeignete Testverfahren. Glücksspielereien, hellseherische Übungen, Ratespiele, körperliche Versuche mit einem Stück vom Geweih des Krokonos oder einem christlichen Kreuz, die Auswertung von Handschriften und zeichnerischer Arbeiten.

Auch die Physiognomie konnte angeblich Aufschluss über die richtige Gesinnung geben. Hierzu ließ Otte sich jedoch nicht weiter aus. Gehörte vielleicht mein Oberlippenbart zu einem der besonderen Kennzeichen? Dann war mein Nachbar, Herr Bremer, auch ein Wittich. Oder Fritsch, der Friseur. Auch er trug seit Kurzem einen Oliba.

Lupo Scholz dreht auf (Fantasy/Humor)Where stories live. Discover now