H a r p e r

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»Das kann nicht dein Ernst sein.«

Er stieß ein Glucksen aus und mein Blick verfinsterte sich weiter. »Doch«, meinte er und ich wusste, wie sehr er sich beherrschen musste, um nicht richtig loszulachen.

»Ich denke nicht, dass wir dann noch länger miteinander befreundet sein können.« Ich öffnete die Mikrowelle, riss die heiße Papiertüte mit spitzen Fingern auf und schüttete das Popcorn in die Schüssel vor mir.

»Was?«, kam es verdattert von Sully, während ich mich abwandte und Richtung Wohnzimmer steuerte. Es war Freitagmittag, Dad war noch bei der Arbeit und ich hatte in Sullys nächsten Therapieschritt eingewilligt. Eishockeyspiele gucken.

»Nur weil ich salziges Popcorn mag?«

Ich galt ihm keine weitere Aufmerksamkeit, sondern verschwand im Raum nebenan.

»Harry!«

Länger konnte ich nicht an mich halten. Das heimtückische Grinsen schob sich wie von selbst auf mein Gesicht. Als Sully zu mir aufschloss und es sah, schnappte er erbost nach Luft.

»Du bist ein Biest, weißt du das?«

Ich grinste ihn an und stellte die Schüssel Popcorn auf dem Couchtisch ab. Während Sully es sich auf dem Sofa bequem machte, lief ich hinüber zum Schrank und zog aus der hintersten Ecke einen alten schwarzen Karton hervor.

»Auch wenn wir befreundet bleiben... Dass du salziges Popcorn magst, bleibt eine Schandtat«, knüpfte ich an unser Gespräch wieder an. »Popcorn muss süß sein, am besten karamellisiert, sodass es an den Zähnen kleben bleibt.« Ich drehte mich wieder dem Sofa zu und sah wie Sully das Gesicht verzogen hatte. Er hatte ja keine Ahnung.

Ich ließ mich mit dem Karton auf dem Schoss neben ihm nieder. Mit seinem neugierigen Blick auf mir nahm ich den Deckel von der Box und strich behutsam über die Rücken der Videokassetten. Über zwei Jahre hatte ich keinen Blick mehr hier rein geworfen. Über zwei Jahre war es ein absolutes Tabuthema gewesen. Über zwei Jahre.

Ein schwaches Lächeln stahl sich auf meine Lippen.

Ich zog eine der Kassetten heraus, stand wieder auf und legte sie in den Rekorder am Fernseher. Es war das letzte Spiel der Saison aus 2008. Vielleicht hätte ich eine Kassette wählen sollen, die mir viel bedeutete, doch ich wollte dem Moment nicht noch mehr Bedeutung zusagen als er ohnehin schon besaß.

Die Kassette verschwand im Rekorder und ich ließ mich zurück aufs Sofa fallen. Sully reichte mir die Schüssel Popcorn und ich griff lächelnd zu. Dann nahm ich die Fernbedienung in die Hand, spulte die Kassette zurück und drückte auf Play.

Keine fünf Minuten später waren sowohl Sully als auch ich völlig ins Spiel vertieft. Nachdem bei mir keinerlei Anzeichen einer Panikattacke aufgetaucht war, hatte ich begonnen es einfach zu genießen, zurück in die Welt zu kehren, aus der ich vor zwei Jahren so brutal gerissen worden war. Ich kehrte zurück und hätte mich nicht mehr Zuhause fühlen können.

Das Popcorn verschwand rasend schnell und ebenso die Minuten des Spiels. Sully begann eine Diskussion über den linken Verteidiger der Gastmannschaft und wie er die linke Seite des Tors für die Gegenmannschaft praktisch völlig offen ließ. Und damit begann das, was ich damals schon so sehr geliebt hatte, wenn ich mir aufgenommene Spiele angeguckt hatte. Wir analysierten und kritisierten jeden noch so kleinen Teil der Mannschaften. Dafür drückten wir auf Pause, spulten zurück, spielten ein und dieselbe Stelle bis zu fünf Mal bis sich einer von uns geschlagen gab.

Als das Spiel endete, schob ich Sully die Box hinüber, damit er das Nächste auswählen konnte. Ich erhob mich währenddessen vom Sofa und lief hinüber in die Küche, um die nächste Portion Popcorn zuzubereiten. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, saß Sully immer noch über die Box gebeugt.

Greatest PretendersWhere stories live. Discover now