S u l l i v a n

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Verschlafen kniff ich meine Augen zusammen und gab ein ausgiebiges Gähnen von mir. Es brauchte eine Weile bis ich meine Gehirnzellen gesammelt hatte und sich die ersten vollständigen Sätze in meinem Kopf bildeten.

Es war Sonntag.

Wie spät?

Ich hatte heute nichts vor.

Warum war ich aufgewacht...?

Die letzte Frage beantwortete sich mir innerhalb der nächsten Sekunden, als mir das leise Vibrieren auf dem Nachttisch bewusst wurde. Irritiert blinzelte ich in die mir entgegen scheinenden Sonnenstrahlen, welche durch das Schrägdach einfielen, und tastete nach der Geräuschquelle – meinem Handy. Statt es jedoch zu ergreifen, beförderte ich es kurzerhand auf den Fußboden. Mit einem leisen *Klock* fiel es auf die alten Holzdielen. Genervt stöhnte ich auf und schloss meine Augen.

Und unweigerlich verstummte das Vibrieren.

Erleichtert atmete ich durch.

Lieber Gott hab bitte Erbarmen mit mir...

Der liebe Herr jedoch wollte meine Gebete dem Anschein nach nicht hören, denn nur wenige Sekunden später meldete sich mein Handy erneut zu Wort und brachte mich dazu mein Gesicht genervt in dem Kissen unter mir zu vergraben.

Wer um Himmels Willen mich zu stören wagte, ich würde demjenigen den Hals umdrehen. Ich hasste es, wenn man mich nicht ausschlafen ließ oder aus dem Schlaf riss oder sonst wie morgens störte.

Voller Verzweiflung entfuhr mir ein durch das Kissen gedämpfter Schrei. Ich könnte ausrasten!

Mit einem Ruck richtete ich mich auf, griff genervt nach dem Handy und nahm den Anruf entgegen.

»Was?!«, gab ich patzig von mir. Ich wollte einfach nur wieder schlafen.

»Hey, chill mal.«

Und im selben Moment wurde mir bewusst, wer mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Warum war ich nicht schon früher auf diesen Gedanken gekommen? Natürlich war es Conall, der mich zu dieser frühen Stunde aus dem Bett klingelte.

»Was willst du?«, knurrte ich meinen besten Freund an, nicht gerade in der Stimmung einen langen Plausch zu halten.

»Mir ist langweilig.«

Okay, damit stand es fest. Bitte notieren: in weniger als einer Stunde würde dieser Junge tot sein. Oder... kleine Änderung: in zwei Stunden. Dann könnte ich noch einmal die Augen zumachen.

»Mh«, gab ich meinen Kommentar zu seiner Aussage ab und versuchte dabei mit aller größter Anstrengung nicht an die Decke zu gehen.

»Sully?«

Nein.

»Ich hör dich«, murmelte ich wenig begeistert. Mein Blick war starr auf die Decke am Ende meines Bettes gerichtet.

»Willst du nicht rüberkommen?«

Das war jetzt nicht sein Ernst.

»Conall!«, entfuhr es mir. »Es ist...« Ich unterbrach mich selbst, um einen Blick auf mein Handydisplay zu werfen und in Erfahrung zu bringen wie spät wir es hatten. »zehn nach elf«

»Und?«

Resigniert gab ich ein Schnauben von mir. Er würde ja doch nicht aufgeben bis ich nachgegeben hatte.

»Okay, ich bin in einer Dreiviertelstunde bei dir«, seufzte ich und legte auf.

Und so etwas nannte sich bester Freund.

Nachdem ich mich damit abgefunden hatte, dass ich wohl keine andere Wahl hatte, schwang ich meine Beine aus dem Bett und torkelte ohne jeglichen Gleichgewichtssinn ins anliegende Bad. Dort schmiss ich meine Klamotten auf den Boden und stellte mich unter die Dusche. Als ich jedoch den Wasserhahn aufdrehte, lief mir statt lauwarmen, eiskaltes Wasser den Rücken hinunter. Nach Luft schnappend wich ich dem Strahl aus und versuchte zu verstehen, warum in Gottes Namen ich das Wasser nicht zuvor getestet hatte.

Einer von vielen Beweisen, dass mein Gehirn kurz nach dem Aufstehen zu nichts zu gebrauchen war. Gut, die Bezeichnung »kurz« war in dieser Hinsicht Definitionssache, denn inzwischen hatte ich mich auf eine Durchschnittsdauer von anderthalb Stunden einpendelt, die mein Hirn benötigte, um fehlerlos zu arbeiten. Zumindest so fehlerlos wie die Hirnzellen von anderen Menschen auch.

Wie dem auch war. Nach der Eisdusche war ich nun definitiv wach. Zu hundert Prozent. Daran ließ sich nicht mehr zweifeln, denn neben meinem Gehirn, das inzwischen auf Hochtouren lief, verschwand auch die schlechte Laune, mit welcher ich jeden Morgen meinen Mitmenschen begegnete. Ich war das absolute Gegenteil von einem Morgenmensch – die Bezeichnung Morgenmuffel traf es eher.

Nachdem ich die Temperatur des Wasser justiert hatte, mich geduscht und wieder abgetrocknet hatte, lief ich zurück in mein Zimmer und suchte mir frische Klamotten aus meinem Kleiderschrank heraus. Dass die Hälfte davon zerknittert, schon einmal getragen oder nur dreimal im Jahr gewaschen wurde, war tragischerweise mir zu verschulden. Denn dank des Erziehungsstils, den ich genießen durfte, musste ich mich um meine Wäsche selbst kümmern. Eine Aufgabe, an der ich seit über drei Jahren scheiterte.

Allerdings hinderte mich das nicht daran wahllos in den Schrank hineinzugreifen und die Klamotten anzuziehen, die ich letztendlich herauszog.

Ich griff mir noch meine rote Cap, welche am Haken hinter der Tür hing, bevor ich das Zimmer verließ und die Treppe nach unten polterte. Unten angekommen fiel mein Blick auf die fehlenden Schuhpaare, was darauf schließen ließ, dass der Rest meiner Familie mal wieder ausgeflogen war. Eigentlich wie jeden Sonntag, denn zuerst besuchten sie gegen halb zehn den Gottesdienst und danach das Café der Pfarrersfrau. Mir sollte es Schnuppe sein.

Seufzend griff ich nach meiner Winterjacke, schlüpfte in meine Chucks und verließ das Haus. Und erst dann registrierte ich, dass es über Nacht wieder geschneit hatte. Mein Blick fiel auf den frei gekehrten Weg vor mir, ehe er zum Nachbarhaus sprang, wo Mr. Carter mit der Schneeschaufel zu schaffen war. Mr. Carter war ein kleiner, etwas rundlicher Herr im Alter von Mitte sechzig. Einer der Wenigen, die ich in diesem Wohnviertel tatsächlich ausstehen konnte. Alle anderen waren stets auf Konformität und Makellosigkeit ausgerichtet. Sie beschwerten sich, wenn die Hecke drei Zentimeter zu hoch war oder wenn Blätter von unseren Bäumen in ihre Gärten fielen. Ich konnte diese Penibilität nicht ausstehen.

Mr. Carter hingegen war das absolute Gegenteil zu ihnen. Er liebte es alte Geschichten zu erzählen, in denen er und seine Freunde in ihrer Jugend Streiche gespielt, ihre Eltern ausgetrickst oder die Lehrer verhohnepipelt hatten. Er war strickt gegen jegliche Norm, befürwortete jede Form der Einzigartigkeit und zudem verabscheute er die übrigen Nachbarn der Wohnsiedlung ebenso wie ich.

»Hallo, Mr. Carter!«, rief ich zu dem älteren Herrn hinüber und hob grüßend die Hand. Sofort drehte er sich zu mir um und begegnete mir mit einem Lächeln. Er unterbrach das Schneeschaufeln und stützte sich stattdessen auf dem Kehrbesen ab.

»Hallo, Sullivan«, erwiderte er. »So früh schon auf den Beinen?«, witzelte er und zwinkerte mir grinsend zu. Kopfschüttelnd legte ich den Kopf schräg, während sich klammheimlich ein Grinsen auf mein Gesicht stahl.

»Wunder geschehen noch!«, rief ich ihm entgegen, bevor ich entschuldigend die Schultern hob und mich von Mr. Carter abwandte. Mit einem anhaltenden Lächelnd auf den Lippen steckte ich meine Hände in die Taschen meiner Jacke und stiefelte durch die dünne Schicht an Schnee.

Greatest PretendersNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ