H a r p e r

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Ich seufzte laut und ließ meinen Blick ein weiteres Mal über mein Spiegelbild wandern. Das letzte Mal, dass ich mir solche Gedanken darum gemacht habe, was ich anziehen sollte, war schon lange her. Doch heute türmte sich diese Frage wie eine riesige Flutwelle vor mir auf. Seit einer Stunde versuchte ich herauszufinden, womit ich mich heute Abend wohl fühlen würde ohne in den größten Schlabberklamotten dazusitzen. Inzwischen war ich bei einfachen Jeans und einem rosafarbenen Pulli angelangt.

Rosa war eigentlich nicht meine Farbe, doch der Pullover hatte früher Mom gehört. Dad hatte damals alle Klamotten auf dem Dachboden verstaut und bis heute kaum einen Fuß nach da oben gesetzt. Ich jedoch schlich mich immer wieder nach oben. Es war schön in den alten Sachen zu wühlen und Erinnerungen an Mom wieder aufleben zu lassen. Egal ob Bilder, ihre Kleidung oder andere Dinge wie auch ihren Schmuck.

Ich lächelte und fuhr zaghaft über den weichen Stoff des Pullis. Wenn ich ihn trug, hatte ich immer das Gefühl Mom wäre bei mir. Und genau das brauchte ich heute Abend. Ich brauchte ihre Unterstützung, das Gefühl sie an meiner Seite zu wissen.

Wieder atmete ich durch. Ich würde noch verrückt werden, wenn ich mich noch länger mit der Frage rumschlug, was ich anziehen sollte. Zudem war Sully nur ein Freund. Oder zumindest der Anfang... oder... ich wusste es selbst nicht.

Mir entfuhr ein weiteres Seufzen. Ich sollte mich wirklich nicht so verrückt machen. Ich würde nur die Eltern eines Schulfreundes kennenlernen. Da sollte ich wirklich ein bisschen entspannter an den Abend rangehen.

Fest davon überzeugt, nickte ich mir selbst zu, schnappte mir noch meine Wollmütze und lief nach unten. Dort schlüpfte ich in meine Stiefel, zog meine Jacke an und stülpte mir meine Mütze über die Ohren. Danach verabschiedete ich mich noch rasch von Dad und Buttons, die es sich wie jeden Samstag auf der Couch bequem gemacht hatten. Ich wusste, dass Dad sein Grinsen unterdrückte, doch das Aufblitzen in seinen Augen konnte er nicht kaschieren. Ich konnte seine Gedanken förmlich hören, doch statt sie auszusprechen, blieb er stumm und wünschte mir nur einen schönen Abend. Ich dankte ihm und verschwand zur Haustür nach draußen.

Wie versprochen hatte mich Sully auch die restliche Woche morgens bei mir abgeholt und nachmittags wieder zurückgebracht. Ich hatte ihn mehrmals darauf hingewiesen, dass er das nicht bräuchte, doch er hatte mich nur angesehen und gelächelt.

Während ich bei dem Gedanken daran grinsen musste, schob ich meine Hände in die Taschen meiner Jacken und vergrub mein Kinn an ihrem Kragen.

Über das Essen bei ihm Zuhause hatten wir erst Freitag wieder geredet. Wir hatten vereinbart, dass ich zu Fuß zu ihm kam, sodass er mich abends wieder zurückfahren konnte. Er hatte mir seine Adresse gegeben und mich erstaunt feststellen lassen, dass es bis zu ihm nur eine Viertelstunde war. Ich hatte den Weg online nachgesehen und mir genauestens eingeprägt. Schließlich wollte ich kein Risiko eingehen.

Sullivan wohnte in einem kleinen Wohnviertel. Mit großzügigen Grundstücken, gepflegten Gärten und weißen Zäunen. Es war süß und trotzdem schob sich eine Falte auf meine Stirn. Vielleicht war es wahnsinnig, aber ich hatte nicht das Gefühl, als wenn Sully hier reinpassen würde. Irgendwas störte, irgendwas passte nicht. Nur wusste ich nicht was.

Beim Haus seiner Eltern angekommen warf ich einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass ich ganze zehn Minuten zu früh war. Unsicher warf ich einen Blick zur Tür und dann wieder auf mein Handy. Ich biss mir von innen auf die Wange und trat von einem Fuß auf den anderen. Sollte ich schon klingeln?

Bevor ich mir den Kopf darüber zermarterte, folgte ich dem kleinen Weg durch den Vorgarten und blieb letztendlich vor der dunklen Haustür stehen.

Ich atmete tief durch, schloss meine Augen für einen Moment und drückte dann auf den Klingelknopf. Die Melodie drang durchs ganze Haus, schien nahezu jeden Raum zu erfüllen und jagte mir damit einen heftigen Schauer über den Rücken.Jetzt gab es kein zurück mehr.

Greatest PretendersWhere stories live. Discover now