23. Dezember 2019

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Tagebucheintrag, 23. Dezember 2018, 20.44 Uhr, Coburg


Oma sagt, ich sehe genauso aus wie Mama.


Die Vorstellung, auszusehen, wie meine Mutter gefällt mir nicht. Was heißt „gefällt mir nicht"? Ich weiß ja, dass ich einiges von meinen Eltern geerbt habe, weil Genetik. Aber ich mag diese Vergleiche nicht. Ich bin ja nicht meine Mutter. Ich habe auch nicht das leiseste Bedürfnis mit einer jüngeren Version meiner Mutter (die ich nicht kenne, die für mich nur in den ewig gleichen Geschichten von Oma oder ein paar Studienfreunden existiert) verglichen zu werden.

Ich wurde bisher auch komplett von der Angst verschont, wie eines meiner Elternteile zu werden. Ich finde mich nie in meiner Mutter wieder. Warum auch? Ich sehe ja alles aus meinem Blickwinkel. Ich finde höchstens manchmal, dass meine Mutter sich so verhält, wie ich. In ganz kleinen Augenblicken. Im großen Ganzen sind meine Mutter und ich wie Tag und Nacht. Und auch eine jüngere Version meiner Mutter und ich wären unterschiedlich wie Tag und Nacht gewesen, wozu also irgendwelche Vergleiche aufzwingen? Ist das verständlich?


Ich bewerte von mir aus. Ich kenne meine Motive für mein Handeln und erkenne sie in anderen wieder, wenn aber ich so handele, wie andere, dann bekomme ich das nicht mit. Mir haben auch immer alle gesagt, dass ich mich meinen Freunden angleiche. Das ist Schwachsinn, finde ich. Ich gleiche mich nicht an, ich zeige nur unterschiedliche Seiten von mir. Wer sagt, dass ich mich meinen Freunden angleiche, beweist damit nur, dass er scheinbar ein verdammt eingeschränktes Bild von mir hat. Punkt.


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Tagebucheintrag, 23. Dezember 2018, 20.51 Uhr, Coburg


Ich behalte es mir vor, den letzten Abschnitt wieder durchzustreichen. Das war ein kleiner Wuttext, weil Oma mich im Prinzip zur jungen Mama gemacht hat. Und zumindest das ist Blödsinn. Manchmal schreibe ich mich selber in Rage. Meine Gedanken zu dem Thema sind noch nicht sortiert.


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23. Dezember 2018, 22.13 Uhr, Coburg


Er machte das Fenster auf. Ich grinste unwillkürlich und hob einen Pullover vom Boden auf, den ich auch schon vor vier Jahren gerne getragen hatte.

„Den hast du noch?", fragte ich und konnte zusehen, wie sich das Lächeln, das ich so gut kannte, das Lächeln, das mich durch die ganze Welt und wieder zurück begleitet hatte auf seinen Lippen erschien.

„Natürlich." Ich zog mir den Pulli über den Kopf. Und wie schon vor vier Jahren schlüpfte erst er und dann ich auf das Dach. Ich spürte wieder den Nervenkitzel. Sollte jemand auf der Straße vorbei kommen, würde er zumindest das Glimmen der Zigaretten sehen. Das hatte uns lange nervös gemacht. Es war immer noch die gleiche Bonbondose wie früher, die als Aschenbecher zweckentfremdet werden musste.


„Déjà-Vu", murmelte Marius als ich ihm hinterher kletterte, mich zwischen seine Beine setzte und den Aschenbecher zwischen meinen Beine platzierte. Hier war alles Déjà-Vu. Coburg war ein einziges Déjà-Vu und Marius auch.

„Déjà-Vu", stimmte ich zu und war versucht, ihn zu küssen. Einfach weil ich noch nie hier gesessen hatte, ohne ihn zu küssen. Einfach, weil dieses Dach es so einfach machte, zu vergessen, dass Jahre vergangen waren, seit wir zum letzten Mal hier gesessen hatten und einfach, weil es hier so einfach war, sich vorzustellen, dass wir noch immer die gleichen Menschen waren, wie damals.


„Ich liebe die Nacht", murmelte er und ließ sich von mir eine Selbstgedrehte reichen. Er rauchte Fertigzigaretten, aber nur aus Faulheit (laut ihm). Ich hatte mich gefreut und sehr verstanden gefühlt, als er mir gesagt hatte, Selbstgedrehte hätten eine ganz andere Magie.

„Nachts fühle ich mich immer, als würde die Nacht mir gehören. Also tagsüber ist es auch schön, gerade in Berlin und London kann man sich da so ein bisschen in der Anonymität verlieren, aber wenn alles schläft, gehört die Welt mir. Das macht Nächte so magisch", erläuterte ich.

„Sehr poetisch. Warst du schon immer so eine Romantikerin?"

„Romantik und ich werden immer schlimmer zusammen." Dank des Tagebuchschreibens, wohl gemerkt.

„Soll vorkommen."


„Hab ich mich eigentlich verändert?"

„Klar. Total. Du bist schon noch Tara, aber mit ein bisschen mehr Biss und trotzdem umgänglich. Ich weiß gar nicht... einerseits ist es jetzt leichter, dir auf den Schlips zu treten, aber deine Art damit umzugehen ist viel besser. Und dein Stil hat sich gewandelt. Ansonsten... ich weiß nicht, es ist immer noch leicht, mit dir über einfach alles zu reden und es ist immer noch schön, einfach mit dir zusammen zu sein."

„Wer ist hier der Romantiker?"

„Ich. Nur weil du romantische Tendenzen entwickelst, heißt das nicht, dass ich meinen unendlich großen Vorsprung in Romantik verliere."

„Marius?"

„Tara?"

„Ich würde einfach kurz ignorieren, wie dämlich das hier alles ist und dich im Namen meiner romantischen Entwicklung küssen?"

„Du bist ja eine starke, selbst Initiative ergreifende Frau", grinste er und wir beide kicherten in unseren komplett vorhersehbaren (und deswegen auch eigentlich jegliche Initiative überflüssig machenden) Kuss hinein. Guter Kuss. Sehr gleich und sehr anders, Schmetterlinge oder Verunsicherung oder beides im Bauch. Wärme, Alkohol, Kippengeschmack. Weiche Lippen, kratzender Bart, gutes Gefühl.


„Sind wir kitschig", stellte ich dann trocken fest, lehnte mich gegen ihn und drehte mir die nächste Kippe. Ich spürte Marius lachen.

„Wir waren schon immer kitschig."

„Das Dach und der Sternenhimmel provozieren das aber auch."

„Hör auf, unseren Kitsch zu rechtfertigen, der braucht das nicht." Ich zündete mir die Fluppe an, legte meinen Kopf auf seine Schulter und sah nachdenklich in die Sterne.

„Versuchst du, unser Schicksal aus den Sternen zu lesen?", fragte Marius und gab mir einen Kuss auf die Wange.

„Ich sehe, wie du nach Hamburg und ich nach London fahren", murmelte ich und er drückte meine Hand.

„Nein, nein, meine Liebe. Du bist Experte fürs Im Moment leben", flüsterte er in mein Ohr, drückte noch einen Kuss hinterher und nahm mir meine Zigarette weg. Ich setzte mich ein bisschen auf und begann wieder zu rollen.


Mit Marius war irgendwie alles ziemlich einfach.

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