21. Dezember 2018

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Tagebucheintrag, 21. Dezember 2018, 00.37 Uhr, Coburg


Ich musste weg. Weg von dem „vom Bahnhof abholen" vom „Stofferl können wir ja auch noch mit nach Hause nehmen" vom gemeinsamen Abendbrot, von meinem Zimmer, in dem sich nichts verändert hat. 


Coburg verändert sich nicht. Also schon, aber nur im Kleinen. Stofferl und Anette sind sechzehn, sie ist aufmüpfiger geworden, ein bisschen dicker, ein bisschen gehässiger. Stefan hat aufgehört sich die Haare zu färben, Mama hat zwei Falten mehr und raucht weniger. Oma und Opa sind kleiner geworden oder ich größer. Aber ansonsten? Abgesehen von den Menschen, die sich auch nur im Kleinen, nicht im Großen, verändern? 


Ich hätte hier blind herlaufen können. Hier hat sich nichts verändert, ich hab mich nur verändert. Das weiß ich. Aber der Bäcker an der Kreuzung gehört jetzt zu einer Kette, vor meiner Schule steht eine Ampel. In meinem Bauch ist dieses unschöne „Nichts hat sich verändert, aber alles ist anders"-Gefühl.


Und jetzt sitze ich hier, mitten im Schnee (überall Schnee, kein Regen, ich hinterlasse tiefe Spuren, der Himmel ist klar, ich kann den großen Wagen sehen und Orion und den Fuhrmann, in London oder Berlin konnte man fast nie Sterne sehen). Ich bin jetzt doch noch eine mysteriöse Figur. Mitten in der Nacht einsam auf einer Bank im Schnee. Dunkler Mantel, die Silhouette vom unromantischen Handylicht angeleuchtet und mit einem Buch auf den Knien. Ich zünde mir jetzt noch eine Kippe an, dann ist das Bild komplett. Und es ist perfektes Wetter, um gedankenverloren Rauch in die Luft zu pusten und zuzuschauen, wie er sich im Nichts verliert.


Es ist kalt, aber die Nachtluft pustet ein bisschen Klarheit in das Chaos in meinem Kopf. Wobei ich gar nicht glaube, dass meine Gedanken so chaotisch sind, sie werden nur von den vielen komplett irrationalen Gefühlen überschattet und sinnlos aufgewirbelt.


AnnenMayKantereit macht die Gefühle nicht besser. Auf dem Weg hierher habe ich den Rest vom Album gehört und es ist lächerlich und unironisch kitschig, wie immer. Aber abgesehen von Schlagschatten im Zug kommt in dem einen katastrophal kitschigen Lied ein Rilke-Zitat vor, Sieben Jahre erklärt sich wohl von selbst, Alle Fragen (nach Marius, ich hasse die Fragen nach Marius).

Wie soll ich die Jungs ernsthaft bashen, wenn ich ein paar Lieder ansprechend finde? Entweder das Tagebuchschreiben oder Coburg sind daran Schuld. Wenn ich wieder in London bin, quäle ich mich noch mal durch die Lieder und hoffe, dass ich sie dann wieder mit Fug und Recht als sehr, sehr mau bezeichnen kann.


Okay. Genug. Jetzt das Buch weg, das Handylicht weg, Kippe an, in die Nacht starren, Kopf leeren.


***


21. Dezember 2018, 15.22 Uhr, Coburg


„Mit euch hier ist es so einfach... einfach, das alles hier wieder zu sehen, wie früher", sagte ich und war ehrlich gerührt. Wir saßen in einem Café am Marktplatz und meinem schwarzen Kaffee gegenüber standen ein Cappuccino und ein Latte und zwei sündhaft teure Stücken Kuchen. Sophie und Basti hatte es nicht überzeugt, dass ich auf Kuchen hatte verzichten wollen, aber ich bin ja immer schon gegen den Strom geschwommen, wie sie dann einräumten. Es war immer ein bisschen seltsam, Basti und Sophie zu treffen, hier noch mehr als die letzten Male in Nürnberg oder Berlin. Manchmal saß ich nur da und fragte mich, wer denn eigentlich dieses Vorzeigepärchen war und wo meine Freunde waren, die schon einmal vor diesem Café in die Büsche gekotzt hatten und auf der Parkbank eingeschlafen waren. Im nächsten Augenblick war es einfacher, da steckten wir alle drei unsere Veränderungen zurück und redeten wieder in der gleichen Sprache wie damals über die gleichen Themen wie damals und dann stimmte wieder alles. Mein Coburg Problem ist aktuell, dass ich es nicht schaffe, Vergangenheit und Gegenwart in Einklang miteinander zu bringen und einen Mittelweg zu finden. Wie gesagt: Im Zurückblicken bin ich nicht sehr gut. Ich verstehe das aber auch nicht. Wie kann die Vergangenheit so nah sein und trotzdem außer Reichweite. Es war, als hätte sich ein Schleier über sie gelegt und jetzt wird meine Sprache mir auch zu blumig.

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