20. Dezember 2018

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Tagebucheintrag, 20. Dezember 2018, 13.20 Uhr, Zug


„Bin ich froh, dass ich den Zug noch bekommen habe. Und meine Sitzplatzreservierung hat auch geklappt. Ach ja. Glück im Unglück gehabt. Was mache ich jetzt? Ich richte mich erst mal ein. So kann man sich ja gar nicht entspannen. Frankfurt, ich komme. So. Erstmal muss die Tasche noch nach oben... Moment, ich lasse mein Tablet und meine Zeitung lieber gleich draußen. Und mein Buch... ach nee. Erstmal nur Tablet und Zeitung.


Es ist schon praktisch, dass es immer diese Haken in der Bahn gibt. Da kommt meine Jacke hin. Ich bin deutsch, sagt meine Zeitung. Oh, sitzt mein Jackett noch? Das ist ja bei all dem Stress das wichtigste.


Verrückt, nicht wahr? Ich arbeite seit mittlerweile einem dreiviertel Jahr in Brüssel und trotzdem komme ich mit dem Verkehrsnetz nicht klar. Das müsste auch mal Europa-weit geklärt werden. Wie das mit dem öffentlichen Nahverkehr geregelt werden könnte. Wie wäre es zum Beispiel mit überall gültigen Schülerausweisen? Ach nee, Schüler reisen ja nicht. Höchstens mit den Eltern. Aber... eigentlich haben wir mit dem Zoll schon ganz sinnvolle Bestimmungen. Ich bin ja froh, dass ich nicht durch die Schweiz fahren muss. Diese blöden Sturköpfe. Wobei jetzt ja noch der Brexit ansteht, durch England sollte ich wohl auch nicht mehr fahren. Sind die ja selber Schuld. Ich bin deutsch und arbeite ganz fancy in Brüssel, das muss man sich mal vorstellen. Ich kann mit meinem Ausweis munter hin und herfahren und alle anderen Länder auslachen.


Meine Beine sind viel zu lang. Immerhin bin ich aus dem Alter raus, wo ich mir nur den Bus leisten konnte. Jetzt fahre ich Bahn. Mit Platzreservierung. Ich bin genau da, wo ich immer hinwollte. Also so gesellschaftlich betrachtet, ich wollte nicht schon immer mal in einem Zug sitzen, das wäre ein sehr unspektakuläres Lebensziel.


Sommersprossen. Das Mädchen mir gegenüber hat Sommersprossen, aber ich will sie ja nicht so aufdringlich anstarren, wie sie mich anstarrt - die Jugend von heutzutage, obwohl, zählt sie noch zur Jugend? Wo sind da die konkreten Altersgrenzen? - jedenfalls Zeitung. Oder? Ist mein Koffer auch verstaut? Kommt hier eigentlich wer mit Kaffee vorbei? So ein umweltsündiger Coffe-To-Go (oder Coffee-To-Sit, wir sind ja im Zug) würde mir jetzt entgegen kommen. So, was passiert denn so alles in der Welt? Hm. Hm. Vielleicht lieber gleich der Sportteil? Oh, eigentlich kann ich mich gar nicht konzentrieren. Sind wir schon losgefahren? Natürlich, ich habe ja eine ganze Weile gebraucht, um mich hier häuslich (züglich?) einzurichten. Ja. Felder, Felder, Felder. Oh, sogar ein paar Windräder - da war auch wieder jemand ganz kreativ in der Namensfindung, Windräder, was ist das denn für eine Bezeichnung?


Nun ja, es ist Weihnachtszeit, eigentlich schade, dass die Züge keine Weihnachtsdeko haben, das würde uns doch hier alles viel mehr in die Weihnachtsstimmung bringen. Überhaupt, wo steht mir denn der Kopf? Ich fahre nach Hause, zu der Familie, da sollte ich nicht über Sommersprossen oder Windräder nachdenken. Ich sollte mich besinnen, angesichts des christlichen Festes.


Jesus wurde geboren. Eigentlich kurios, wie viel man über Jesus weiß und wie sehr das Christentum all das entgegen jeglicher historischer Ansätze verklärt. Und was ist denn so besonders daran geboren zu sein? Ostern ist Jesus auferstanden, müsste das nicht das spektakulärere Fest sein? Vielleicht kriegen meine Kinder zu Ostern ab jetzt mehr Geschenke. Oh, da waren meine Beine zu lang, jetzt habe ich das Mädchen aus Versehen am Fuß berührt. Soll ich mich entschuldigen? Ach, sie entschuldigt sich ja auch nicht, ich tue einfach so, als würde ich wieder Zeitung lesen.

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