Kapitel 44

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„Du hast selber gesagt, dass wir das schaffen, also behalte deine unnötigen Tränen bei dir", meckert mich Lucy an, als wir schon seit bestimmt fünf Minuten in unserer Umarmung vertieft sind. Weder sie noch ich können voneinander ablassen, während uns beiden die Tränen in Strömen aus den Augen fließen. Sie gehen zu lassen, fällt mir viel, viel schwerer, als ich gedacht habe. Noch nie waren wir länger als drei Wochen voneinander getrennt und gerade jetzt brauche ich sie doch noch dringender als sonst, um nicht die Nerven zu verlieren. Bei wem soll ich mich zu jeder Tageszeit ausheulen können, mit wem soll ich all meine Befürchtungen, Ängste und meine Freude teilen?
„Wie soll ich nur mein erstes Studienjahr ohne dich durchstehen?", heule ich ihr weiterhin die Ohren voll, während alle anderen stöhnend um uns herum stehen und genervt den Abschied über sich ergehen lassen. Wenigstens Tom hat sich annähernd dramatisch von ihr verabschiedet, während ich bei den anderen anzweifle, ob sie überhaupt irgendwelche Emotionen verspüren. Eiskaltes Pack. Wenigstens habe ich noch Tom, mit dem ich mich super verstehe, obwohl niemand Lucy ersetzen kann.
„Du wirst klarkommen, bis zu deinem Staatsexamen bin ich doch wieder da", versucht mich Lucy aufzuheitern, kann dabei aber ihre eigenen Tränen nicht bändigen, was es für mich nicht leichter macht, meine Augen endlich wieder trocken zu bekommen. Wenn einer weint, muss ich grundsätzlich mitmachen und bei Lucy ist es nochmal etwas ganz anderes. Ihr Leid ist grundsätzlich meines, genauso wie umgekehrt, als ob unsere Herzen miteinander verknüpft sind. Daran können auch tausende Kilometer zwischen uns nichts ändern.
„Mädels, es tut mir zwar wahnsinnig weh, euch so zu sehen, aber wir müssen jetzt echt zum Check-In. So ein Flug ist teuer, da habe ich nicht vor, ihn zu verpassen", unterbricht uns Ben. Erschrocken sehe ich auf die Uhr und muss feststellen, dass es wirklich aller höchste Eisenbahn ist. So viel zu einem kurzen Abschied vom Freundeskreis. Wir sind alle gemeinsam zum Flughafen gefahren, ich Nik, Ana, Josh, Sara, Tom und Lucys Eltern und das haben wir jetzt davon, wir kommen nicht voneinander los, beziehungsweise ich komme nicht von ihr los. Wir hätten uns kurz und schmerzlos am Abend vorher verabschieden sollen. Für alle anderen, auch wenn sie sie vermissen werden, war der Abschied nicht so schwer. Ich glaube sogar fast, dass es mich mehr mitnimmt als ihre Eltern, obwohl sie auch sehr an ihrer Tochter hängen. Lucy ist meine unbiologische Schwester, die ich einfach zum Leben brauche.
„Ihr solltet euch jetzt wirklich losmachen, sonst verpasst ihr noch euren Flug. So böse wäre ich darüber zwar auch nicht, aber da ich weiß, wie viel euch das bedeutet und dass ihr gebraucht werdet, kann ich das wohl schlecht verantworten", überwinde ich mich zu einem endgültigen Abschied, auch wenn die Worte nicht allzu überzeugend meinen Mund verlassen. Es fällt mir so schrecklich schwer, meinen eigenen Herzschmerz wegzustecken, damit Lucy ihre Träume verwirklichen kann. Ich liebe sie so sehr, aber Liebe bedeutet nun mal auch, dass man den anderen loslassen muss, wenn es das Beste für denjenigen ist.
„Nächstes Jahr bin ich wieder da und die Zeit wird so schnell vergehen, dass du es kaum merkst. Du wirst auch ohne mich klarkommen, Nik wird schon wissen, wie er dich ablenken kann", spricht sie ihre letzten an mich gerichtete Worte.
„Und du passt bloß gut auf sie auf, sonst werde ich dir richtig wehtun, unterschätze mich nicht. Wenn sie mir auch nur einmal am Telefon wegen dir die Ohren vollheult, dann ist mir die große Entfernung egal, du wirst trotzdem leiden. Ich habe so meine Kontakte, außerdem werde ich für sie zu jeder Zeit ins Flugzeit steigen, um dich fertig zu machen", droht sie Nik, den sie daraufhin trotzdem freundschaftlich umarmt, bevor sie nochmal zu den anderen auf Wiedersehen sagt. Sie hat sich mit der Beziehung zwischen mir und Nik zwar angefreundet, hat sich sogar wahnsinnig für uns beide gefreut und grinst jedes Mal, wenn sie die kleinen Liebesbeweise zwischen mir und Nik mitbekommt, ist dennoch wahnsinnig misstrauisch und behält Nik gut im Auge. Ich hoffe, dass ihr ausgeprägter Beschützerinstinkt in diesem Fall nicht gerechtfertigt ist.
„Dito, bring sie mir gesund und munter wieder zurück, sonst gelten ihre Drohungen auch für dich", warne ich auch Ben, obwohl ich bezweifle, dass irgendwas oder irgendjemand Lucy etwas anhaben kann, zumal sie nicht in ein Kriegsgebiet reisen. Und falls sie plötzlich eine Giftschlange in ihrem Zimmer hat oder ein Löwe auf die dumme Idee kommt, sich mit ihr anzulegen, bin ich mir ziemlich sicher, dass nicht Lucy diejenige ist, die die Flucht ergreift. Jeder, der sich ihr in den Weg stellt, könnte einem fast leidtun.
„Dann macht's mal gut, alle zusammen! Wir werden euch schrecklich vermissen", richten sich die beiden Ausreißer ein letztes Mal an uns, bevor sie sich endgültig auf den Weg machen.
„Mach's besser! Und melde dich bitte bei mir, sobald ihr angekommen seid!", rufe ich ihr noch zu und höre mich dabei fast an wie ihre Mutter. Sie ist doch auch ein kleines Küken, das plötzlich die große, weite Welt sehen will und nebenbei helfen möchte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Nik scheint das ausgesprochen witzig zu finden, weil er sich ein Lachen kaum verkneifen kann. Noch lange schaue ich den beiden hinterher, selbst dann, als sie schon weg sind, kann ich den Blick nicht von der Stelle abwenden, an der sie gerade noch standen. Es fühlt sich jetzt schon so an, als hätte man mir ein Stück meiner Seele herausgeschnitten. Nie hätte ich gedacht, dass es mir so schwerfallen würde, als sie uns von ihrem Vorhaben erzählt haben. Gleichzeitig erfüllt es mich mit Stolz, dass Lucy diesen Schritt gehen will und damit endlich etwas gefunden hat, was sie erfüllen könnte und was sie sich eventuell für die Zukunft vorstellen kann. Es wäre nur egoistisch, in Trauer aufgrund ihrer Reise zu versinken. Ich werde sie wiedersehen, vielleicht verbringe ich meinen nächsten Urlaub ganz zufällig in Tansania.
„Wirst du es überstehen oder brauchst du schon einen Psychotherapeuten?", zieht mich Nik auf, dieser unsensible Idiot.
„Ach lass mich doch in Ruhe. Ich muss mich nicht rechtfertigen, nur weil ich Gefühle habe, im Gegensatz zu euch", keife ich alle anderen an. Oh ja, ich bin sehr sensibel. Nik versucht, mich mit seiner Umarmung zu beruhigen und tatsächlich funktioniert es. Eine Berührung von ihm und er kann mich besänftigen, so aufgebracht ich auch bin. In letzter Zeit bin ich das sehr häufig und reagiere bei allem etwas über, was ich darauf schiebe, dass meine Hormone dank Nik vermutlich total durcheinandergebracht wurden. So etwas Ähnliches ist mir schon bei Max passiert, nur nicht in diesem Ausmaß. Wir sind jetzt knapp zwei Wochen zusammen und alles läuft so erschreckend...einfach, einfach gut. Ich will mich darüber nun wirklich nicht beschweren, es ist bloß eine wahre Überraschung, wo es doch die ganze Zeit so kompliziert zwischen uns war. Ich habe erwartet, dass wir uns besonders am Anfang oft in der Wolle haben und uns gegenseitig die Augen auskratzen würden. Bisher ist nichts Dergleichen passiert, was mich einerseits stolz und andererseits misstrauisch macht. Die ganze Zeit warte ich nur darauf, dass irgendwas in die Hose geht. Ich fühle mich wirklich gut in dieser Beziehung, ich kann sein wer ich bin und es gibt so gut wie keine Unstimmigkeiten zwischen uns und das, wo ich doch mit Nik zusammen bin, mit dem ich vorher wohl kaum einen Tag ohne wenigstens einen Streit verbringen konnte. Es ist alles so anders, als ich es mir vorgestellt habe und das überfordert mich wahrscheinlich ein bisschen. Ich war auf alles eingestellt, nur nicht auf diese Harmonie. Vielleicht liegt unser Geheimnis darin, dass wir endlich angefangen haben, ehrlich miteinander zu sein, dass wir beide unsere Schutzhüllen abgelegt haben. Wir sind voreinander, wer wir sind, verstellen uns keine Sekunde und können über alles ganz offen reden, auch wenn es einem nicht immer leicht fällt, alle Gedanken miteinander zu teilen. Oft kostet das einige Überwindung, die sich allerdings auszahlt. In einer Beziehung ist es mitunter am wichtigsten, seinen Partner wirklich zu kennen und zuzuhören, nicht nur bei dem, was er sagt, sondern auch das Unausgesprochene zu verstehen. Wir geben uns wirklich Mühe, obwohl es andererseits so leicht ist, so wie es das mit Max nie war. Vielleicht habe ich in Nik den Richtigen gefunden, mit dem ich mein Leben verbringen könnte, aber so weit will ich in meinem jungen Alter noch gar nicht denken. Doch wer weiß, so unwahrscheinlich muss das gar nicht sein. Meist sind die Menschen, von denen man es am wenigsten erwartet, die, die für uns bestimmt sind. Niemand, kein Mensch hätte zu Beginn gedacht, dass Nik und ich in irgendeiner Weise zusammen passen, dabei habe ich jetzt das Gefühl, dass er schon immer zu mir gehört hat und ich ihn jetzt erst gefunden habe.
„Glaub mir, seit ich dich kenne, habe ich mehr Gefühle, als ich mir jemals zugetraut hätte", flüstert mir Nik ins Ohr, während meine Tränen langsam getrocknet sind. Er hat es wieder geschafft, dass mein Herz aufgeht und alles in mir vor Freude zum Strahlen bringt. Damit hat er ein Stück der Traurigkeit verbannt, was niemand sonst so schnell geschafft hätte. Dafür liebe ich ihn. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich genauso Liebe anfühlen muss. Bisher konnte ich es ihm noch nicht sagen, weil ich mich vor seiner Reaktion fürchte. Er würde mich nicht dafür auslachen, ich bezweifle nur, dass er die gleichen Worte zu mir sagen kann. Nicht, weil er es nicht empfindet, er ist einfach nicht der Mensch, für solche Worte.
„Ich würde sagen, wir machen uns wieder auf den Rückweg. Ich will mir dieses Geschnulze nicht mit ansehen", spottet Ana, aber ich weiß genau, dass sie es nicht so meint, zumal wir alles andere als schnulzig sind. Ausgerechnet aus ihrem Mund diese Worte zu hören, ergibt sowieso keinen Sinn, da sie und Josh selber kaum die Augen voneinander abwenden können und das nach so langer Zeit. Sie und die anderen genießen es einfach nur, Nik mit solchen Bemerkungen aufzuziehen, da sie von ihm niemals erwartet hätten, dass er sich so schnell bindet und plötzlich zu einem anständigen, fast schon romantischen Kerl wird. Wäre ich nicht seine Freundin, würde ich es vermutlich genauso machen.
„Du musst doch nicht eifersüchtig sein, Ana, nur weil eure Beziehung eingestaubt ist und du nichts Besseres als Josh kriegen konntest", entgegnet Nik mit einem frechen Grinsen. Das schönste Grinsen auf dieser Welt und es gehört mir, er gehört mir. Wenn ich so zu ihm aufschaue, sein wunderschönes Gesicht betrachte, dass nur denen ein Lächeln schenkt, die es auch verdienen, kann ich es gar nicht fassen, dass ich tatsächlich mit ihm zusammen bin. Ich hatte mir nie die größten Hoffnungen gemacht, dass er sich wirklich darauf einlassen würde.
Als wir ein letztes Mal mit Lucy und Ben im Club waren, ist mir nicht entgangen, wie ein paar Mädels Nik den ein oder anderen anzüglichen Blick zugeworfen haben. Noch nie hatte ich so das Bedürfnis danach, mein Revier zu markieren, also habe ich ihnen ganz offen gezeigt, dass Nik nicht verfügbar ist, als ich ihn jedes Mal vor den Augen dieser Mädels abgeknutscht habe, als gäbe es keinen Morgen mehr. Ich bin eventuell noch ein wenig besitzergreifend, aber wer kann es mir verdenken, bei so einem Frauenschwarm.
„Na gut, wir machen uns dann wirklich mal wieder auf den Weg, wir müssen noch zum Geburtstag meiner Tante", unterbricht Josh meine Gedanken und klingt dabei nicht gerade so, als könnte er sich jetzt keine schönere Beschäftigung vorstellen. Die anderen schließen sich ihnen mit ihren Verabschiedungen an, sodass auch wir den Flughafen verlassen. Da wir mit Tom hergekommen sind, steigen wir auch wieder bei ihm ins Auto.
„Wo soll ich euch eigentlich absetzen?", fragt er uns, bevor er losfährt. Ich wollte Nik gerade fragen, was er jetzt vorhat, doch dazu komme ich gar nicht mehr.
„Zu ihren Eltern", übernimmt Nik für mich das Antworten und sorgt dafür, dass sich in meinem Gesicht ein dickes, fettes Fragezeichen abbildet. Will er mich für heute schon loswerden? Wir haben uns doch noch gar nicht lange gesehen.
„Ich weiß nicht, ob du es noch zu früh findest, aber ich glaube, es wäre ganz gut, wenn ich endlich mal deine Eltern kennenlernen würde. Ich komme irgendwie nicht mit dem Gedanken klar, dass sie mich immer noch verabscheuen könnten und dich nur widerwillig mit mir zusammen sein lassen. Ich will, dass sie merken, dass du in mehr oder weniger guten Händen bist, außerdem will ich deine Eltern auch mal kennenlernen und sehen, ob sie wirklich so schlimm sind."
Ich bin völlig sprachlos, Nik überrascht mich immer wieder. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass er scharf darauf ist, meine Eltern zu treffen, zumal ich ihm nicht gerade viel Gutes über meine Familie erzählt habe, da es einfach nicht viel Positives über sie zu berichten gibt, wenn man von ihrem Geld absieht, von dem Niks Familie auch ausreichend besitzt. Jedoch kann ich verstehen, dass er es leid ist, in den Augen meiner Eltern der Bösewicht zu sein, obwohl sie ihn kein Stück kennen. Mein Vater mag sich gut damit abgefunden zu haben, doch selbst ihm fällt es schwer, nicht manchmal misstrauisch zu werden und mich zu fragen, ob mich mein Freund auch gut behandelt. Von meiner Mutter will ich gar nicht anfangen, sie versucht, das Ganze einfach zu ignorieren und sobald das Thema Nik zur Sprache kommt, redet sie einfach dazwischen und versucht uns auf ihr Gespräch zu lenken. Sie hat sich definitiv weiterentwickelt, ich bin schon stolz auf sie, dass sie mir überhaupt erlaubt, mit Nik auszugehen, richtig einverstanden ist sie allerdings immer noch nicht. Wenigstens merke ich ihr an, dass sie stark versucht, an sich zu arbeiten.
„Vielleicht ist die Idee gar nicht schlecht, auch wenn ich Angst habe und nicht weiß, ob es ein Fehler ist, ihnen das nicht einen Monat vorher anzukündigen. Meine Mutter müsste sich wahrscheinlich Ewigkeiten seelisch auf euer Zusammentreffen vorbereiten", gebe ich zu Bedenken.
„Nein keine Ausreden, wir werden das jetzt durchziehen." So viel Angst ich auch habe, so sehr freut es mich, dass es Nik scheinbar sehr ernst mit mir meint. Warum sonst sollte er meine Eltern kennenlernen wollen? Er weiß, dass er dann erst Recht nicht mehr mit mir spaßen darf.

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