Kapitel 22

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Max hat mir zurückgeschrieben, dass er froh sei, dass alles in Ordnung ist, dass es mir gut geht und hat sich erneut tausendmal entschuldigt. Ich bin erleichtert, dass er seine Schuldgefühle so offen zeigt und weiß gleich darauf, dass ich kein Recht mehr darauf habe, irgendwelche Ansprüche an ihn zu stellen. Ich bin der absolute Albtraum einer Freundin und trotzdem würde es mich stark kränken, wenn er mir das Gleiche wie ich ihm antäte. Wir haben uns für den morgigen Tag verabredet und ich bin froh, dass ich ihm nicht schon heute unter die Augen treten muss, schließlich bin ich heute Morgen noch im Bett eines anderen aufgewacht. Selbst morgen erscheint mir viel zu früh, um die Geschehnisse richtig verarbeitet zu haben. Die Mischung aus Freude über die tollen Erinnerungen und die Wut auf mich selbst lässt kein bisschen nach. Meine Gefühle sind so zwiegespalten, dass ich Angst habe, dass ich noch schizophren werde. Momentan scheint es wirklich so, als haben sich zwei sehr unterschiedliche Personen in mir Platz gemacht und ich kann mich nicht entscheiden, welche von beiden ihren Kampf gegeneinander gewinnen soll. Ich habe mir mein Leben, wie es momentan ist, so gewählt, ich hatte die Wahl und hätte es nicht tun müssen. Auch weiterhin habe ich die Wahl und kann mich selbstständig aus diesem Dilemma befreien. Nur ein Problem gibt es: Ich bin schrecklich feige und diese Angst steht allem im Weg. Ich bin zu feige, mich so zu präsentieren, wie ich wirklich bin. Ich bin zu feige, um meine Meinung laut auszusprechen. Ich bin zu feige, loszulassen, weil ich bisher Beständigkeit immer als etwas Gutes empfand. Ich bin sogar zu feige, um mir selbst meine wahren Gefühle und tiefsten Wünsche einzugestehen. Dieses Wissen macht bei weitem nichts besser, aber ich habe etwas, woran ich arbeiten kann. Ich muss alles daran setzen, um diese Schwäche zu besiegen oder wenigstens zu lindern.
Natürlich muss ich im Laufe des Tages Lucy anrufen. Auch von ihr habe ich einen verpassten Anruf und eine Nachricht, da ich versprochen hatte, nochmal mit ihr zu reden, sobald ich wieder zu Hause bin. Damit hat auch sie gestern Abend gerechnet. Vielleicht denkt sie jetzt, dass ich bis heute Morgen bei Max geblieben bin. Was wird sie nur dazu sagen? Ich vertraue immer auf ihre Unterstützung, dabei sind in einer Freundschaft Meinungsverschiedenheiten vollkommen berechtigt.
„Na wird auch mal Zeit, dass du dich endlich bei mir meldest. Ich dachte schon, dir ist etwas passiert!", faucht mich Lucy an und dass auch sie so besorgt um mich ist, rührt mich. Aber warum denkt jeder gleich, dass ich tot bin oder Ähnliches, nur weil ich mich nicht ständig melde? Ich kann auch noch auf mich selbst aufpassen.
„Tut mir leid, aber ich war ziemlich abgelenkt", versuche ich das Thema einzuleiten. „Ich bin gestern irgendwann von Max abgehauen, weil ich sauer auf ihn war und es nicht mehr ausgehalten habe. Wirklich, das war mal wieder grandios von ihm, ich war kaum existent und abgewiesen hat er mich auch erneut. Irgendwie bin ich dann nicht bei mir zu Hause gelandet, sondern bei Nik vor der Wohnungstür..." Meine letzten Worte ziehe ich immer mehr in die Länge, letztendlich klingt mein Satz wie eine Frage. Ich bin zu gespannt auf ihre Reaktion.
„Wie jetzt? Was hast du dort gemacht?", wundert sich Lucy gleich, schnell fällt es ihr daraufhin wie Schuppen von den Augen. „Oh mein Gott! Sag mir jetzt nicht, dass du deshalb dort warst!", schreit sie fast, während ich eher geflüstert habe, aus Angst, dass irgendjemand sonst etwas hören könnte. Ihre Stimme ist eine Mischung aus quiekiger Freude und großem Entsetzen, also geht er es ihr wie mir. Ich habe zwar noch nicht erzählt, wie weit es zwischen uns ging, aber das kann sie sich wohl denken. Wie kommt sie eigentlich so schnell darauf, dass wir Sex hatten? Vielleicht wollte ich einfach nur mit ihm rumknutschen. Oder einen Tee trinken. Ist mir denn das, was ich getan habe, so leicht zuzutrauen? Ich hoffe nicht, sonst kommen Max und sämtliche andere Personen, die es nicht wissen sollten, auch ganz schnell hinter mein Geheimnis. Lucy hat eine sehr blühende Fantasie, natürlich schließt sie als erstes auf Sex und sie kennt Nik, da weiß man wohl automatisch Bescheid.
„Habt ihr ES getan?", hakt sie mit starker Betonung auf dem „es" nach.
„Ja, haben wir. Frag mich nicht, wie es dazu kommen konnte, das verstehe ich selber noch nicht richtig."
„Gleichzeitig freue ich mich für dich und bin doch sehr überrascht, dass die liebe, unschuldige Vic einfach mit einem anderen Typen schläft, mit dem sie nicht schon zwei Jahre zusammen ist. Im ersten Moment war das ein kleiner Schock, weil ich mit diesem Tempo kein Stück gerechnet habe und schon gar nicht, dass du den ersten Schritt machst." Sie klingt kein bisschen vorwurfsvoll, sondern eher, als würde sie im Kopf jedes Wort analysieren, in der Hoffnung, dass sie den Ursachen damit irgendwie auf den Sprung kommt.
„War das dumm von mir?", hake ich nach, weil ich ein ehrliches Statement von ihr benötige, denn keiner kennt mich besser und kann mich besser einschätzen.
„Das kommt darauf an, wie du dich damit fühlst. Natürlich passt es nicht zu dir, dass du einfach so einen Seitensprung vornimmst und dann auch noch mit jemandem wie Nik. Aber du bist dir darüber bewusst, dass du von Nik nicht mehr erwarten kannst, so blöd kannst du nicht sein, dann hast du dir schon genug Gedanken darüber gemacht. Du hast es freiwillig getan, warum sollte es dann falsch sein? Du bist ein freier Mensch, jetzt musst du nur mit den Konsequenzen leben und deine Schlüsse daraus ziehen. Das mag nicht einfach sein, aber wenn du einmal angefangen hast, deine eigenen Entscheidungen zu treffen und dein Leben selbst zu bestimmen, dann ist jetzt definitiv der falsche Zeitpunkt, um damit aufzuhören. Ergo solltest du Max endlich in die Wüste schicken, so weh das auch tut."
„Ich schaffe es aber nicht, mit ihm Schluss zu machen, auch nicht in ein paar Wochen, denke ich. Ich glaube, dass ich mir zum ersten Mal zu wenig Gedanken über eine Sache gemacht habe und dass das ein riesen Fehler war, denn wirklich viel nachgedacht habe ich nicht, bevor das alles passieren konnte. Eigentlich habe ich gar nicht mehr gedacht", gebe ich zu bedenken. Plötzlich ist Lucy die Rationalere und ich die Impulsive, es hat sich so vieles geändert.
„Was hält dich denn bei Max? Du bist doch mit ihm gar nicht mehr glücklich, ich kann das langsam nicht mehr verstehen", gibt sie ehrlich zu, was mich noch mehr an mir zweifeln lässt. Wie abhängig bin ich denn von anderen?
„Vermutlich habe ich Angst vor dem Alleinsein", gestehe ich mir ein. „Max ist einfach so eine Konstante in meinem Leben, auf die ich mich verlassen kann, dass sie immer irgendwie da ist. Er bietet mir Sicherheit. Was ist, wenn ich niemand Besseren mehr finde als ihn? Nik wird sicherlich nicht mein Zukünftiger sein."
„Das klingt alles furchtbar, was du da sagst. Ich denke oft wirklich, ihr lebt alle noch in den Fünfzigern. Hör mal zu, ich treffe mich gleich mit Tom, Sara und Ben im Café, komm doch dazu. Du brauchst jetzt dringend eine Ablenkung. So fasst du am besten wieder klare Gedanken."
Lucy legt auf, ohne eine Antwort von mir abzuwarten, also ist für sie klar, dass ich kommen werde. Zu meiner Erleichterung hat sie Nik nicht erwähnt, denn den müsste ich heute genauso wenig sehen wie Max. Wie immer weiß Lucy genau, was ich tun werde. Ob sie insgeheim schon meine weiteren, noch viel wichtigeren Entscheidungen vor Augen hat, mir nur nicht verraten will, wie es ausgeht?

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