Verletzlich

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Anna seufzte und ließ sich erschöpft in den Schnee fallen. Sie versuchte mit den Zehen zu wackeln, doch sie schmerzten so sehr von der Kälte, dass Anna dachte, sie würden ihr jeden Moment abfallen. Stumm verfluchte sie Shilah, das feige Huhn, dass sich vor einem heruntergefallenen Ast erschreckt hatte. Es würden noch einige Kilometer vor ihr liegen, wieso war sie auch so weit geritten? Hoffentlich erreichte sie das Apachendorf noch vor Sonnenuntergang.

Es dämmerte bereits, als sie in der Ferne ein Pferd schnauben hörte. Sie wollte schon mit lauten Rufen auf sich aufmerksam machen, doch dann fiel ihr ein, dass es ja auch ein Spanier oder womöglich der Texasranger sein könnte, und schloss den Mund wieder. Geschickt versteckte sie sich hinter einer großen Kiefer und wartete auf das Näherkommen des Pferdes und seines Reiters. Endlich konnte sie klar erkennen, dass dort ein Apache auf sie zuritt. Die schwarzen langen Haare und die Kleidung mussten zu einem gehören. Und dann erkannte sie auch, wer dort auf dem Pferd saß.

„Canovist! Du bist zurück!" Stürmisch lief Anna auf den Reiter zu und jauchzte dabei freudig. Ihre Pläne, sich ihm gegenüber zurückhaltend und keusch zu reagieren, hatten die kalten Füße und der knurrende Magen sie vergessen lassen. „Wir haben euch nicht vor dem Vollmond erwartet."

Ein Stein fiel Canovist vom Herzen, als er das junge Mädchen so aufgeweckt und putzmunter vorfand. Stundenlang war er durch die Schneewüste geritten. Welch ein Glück, dass er und nicht jemand anders sie gefunden hatte. Sonst hätten ihm wohl noch weitere Stunden des Bangens bevorgestanden. Behände sprang er von seinem Hengst. „Bist du verletzt?" Seine Stirn legte sich in tiefe Falten. „Nein, es geht mir gut. Ach, ich freu mich so dich unverletzt zurück zu sehen!", antwortete Anna aufgeregt. Ohne etwas zu erwidern packte Canovist sie an den Schultern und dreht sie herum, um sich zu vergewissern, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Besorgt betrachtete er einen Kratzer an ihrem Handgelenk. Das junge Mädchen bemerkte seinen Blick. „Ach das ist nichts, nur ein kleiner Kratzer!", versicherte sie ihm und wollte sich ihm entziehen, doch der Krieger hielt ihre Hand fest umschlossen. Sie rollte mit den Augen und trat einen Schritt auf ihn zu: „Wirklich. Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen." Eindringlich sah sie in seine Augen. Seine dunklen Augen, die so voller Sorgen waren. Jetzt war sie es, die die Stirn runzelte. „Geht es dir denn gut?", fragte sie.

Doch er antwortete nicht. Er überwand die letzten Zentimeter zwischen ihnen und küsste sie. Seine großen Hände wanderten in ihren Nacken und die Daumen strichen sanft über ihre Wangen. Begierig erwiderte Anna seinen Kuss, presste ihre Lippen an seine und erkundete seine starke Brust mit ihren Händen. All ihre Vorsätze schwanden mit jedem Atemzug und jeder Berührung dahin. Plötzlich ließ Canovist sie los, um seine Stirn an ihre zu legen. Sein Atem ging heftig. „Ich dachte ich hätte dich verloren".

Einige Zeit später befanden sich die beiden auf dem Weg zurück zum Apachendorf. Anna saß vor dem jungen Krieger auf seinem Pferd. Immer wieder vielen ihr die Augen zu, doch seine Arme umklammerten ihre Hüfte und hielten sie sicher auf dem Rücken des Hengstes. Canovist dachte, dass er wohl noch nie einen schöneren Moment in seinem Leben gehabt hätte und doch schlichen seine Gedanken immer wieder zu seinen Kriegern, zu groß war die Sorge um die Spanier und ihren Feuerwaffen. Er seufzte und lehnte seinen Kopf auf Annas Rücken. Sie griff mit ihrer Hand nach seinen Armen und streichelte sie zart. Sie wusste, dass ihn etwas bedrückte, doch fragte nicht nach. Ihre Berührungen waren Trost genug. So stark Canovist doch war und vor seinen Männern wirken musste, um so verletzlicher war er bei diesem weißen Mädchen und endlich wusste er, dass er ihrem Zauber hilflos verfallen war. Er würde im Dorf seinen Vater bitten, sie zu seiner Frau machen zu dürfen. Noch bevor der Krieg beginnen würde.

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