Kindheit

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Anne war kein leichtes Baby. Sie schrie und schrie. Johan, der Wechselschichten bei der Bahn hatte und dafür verantwortlich war, dass die Züge auf den richtigen Gleisen ankamen und abfuhren, konnte sich keine Ausfälle wegen des schreienden Babys und verpassten Schlafes leisten und stellte das Kind erneut seinem Hausarzt vor. Dieser war nach kurzer Untersuchung der Ansicht, dass ein Klapps auf den Po noch keinem Kind geschadet hätte.

Doch der Rat des Arztes half nur kurzfristig und nachdem sich Anne an die Klappse gewöhnt hatte, halfen sie gar nicht mehr. Das Kind schrie weiter, angeblich völlig grundlos und zerrte an den Nerven ihrer überforderten Eltern.  Eines Nachts, als Anne schon seit Stunden gebrüllt hatte und an Schlaf nicht zu denken war, nahm Johan den schreienden Säugling aus seinem Bettchen und schleuderte den kleinen Körper mit voller Wucht an die Wand.

Augenblicklich war Ruhe!

Johan hob das bewusstlose Kind auf und bekam es mit der Angst zu tun. 

"Kein Wort zu irgend jemandem!" , wies er seine zutiefst geschockte Frau an, "wehe, du sagst etwas....!" , drohte er. 

Käthe nickte stumm. So gewalttätig hatte sie ihren Mann noch nie erlebt.

In Windeseile zog sich Johan an, nahm das Kind, rannte mit ihm zum Haus des Arztes und klingelte dort Sturm. Die Frau des Arztes öffnete ihm die Tür und brauchte nur eine Sekunde, um den Ernst der Lage zu begreifen. Sofort alarmierte sie den Rettungsdienst, der das Kind mit Sirene und Blaulicht ins Uni-Klinikum brachte. 

Den Kindesvater schickte sie mit einigen beruhigenden Worten nach Hause.

Sechs Monate lang blieb Anne in der Uni-Klinik, ohne dass ihre Eltern sie besuchen durften. Die Polizei und das Jugendamt waren eingeschaltet worden, nachdem Anne untersucht und ihre Verletzungen an der Wirbelsäule dokumentiert worden waren, die nur durch heftige Gewalteinwirkung entstanden sein konnten.

Wegen dieser Scherereien, die  Anne ihnen verursacht hatten, hassten sie ihr Kind noch mehr und ließen es nach seiner Rückkehr nach Hause bei jeder Gelegenheit spüren. 

Anne entzog sich ihren Eltern, ohne dass sie verstand, warum.

Erst mit zwei Jahren lernte sie Sitzen und mit vier Jahren konnte sie endlich laufen, wenn auch ein wenig wackelig, was sich in ihrem ganzen Leben auch nicht mehr änderte. Ihre Wirbelsäule war schief und driftete nach Rechts, so dass dort in Taillenhöhe die Knochen herausstanden, während sich auf der linken Körperseite eine Delle befand. Und auch sonst war sie tapsig und ungeschickt, ganz wie ihre Mutter.

Auf schmerzhafte Weise lernte Anne, dass die Menschen sie entweder ablehnten, oder Mitleid mit ihr hatten. Keiner liebte sie und keiner wollte sie. Das war die Realität.

Als Anne in die Grundschule eingeschult werden sollte, kam bei der Pflicht-Untersuchung der Vorschulkinder das ganze gesundheitliche Dilemma ans Tageslicht. Sie konnte weder springen, noch auf einem Bein hüpfen und auch der Ball, den der Arzt ihr zuwarf, um ihre Reaktionsfähigkeit zu testen, ging daneben. Sie machte den Mund kaum auf, wenn der Arzt sie etwas fragte und wenn sie doch antwortete, stotterte sie. Die Augen, das Gehör, die Zähne...., alles war defekt! Die Wirbelsäule sowieso und warum sich Anne's Beine und Füße beim Gehen unnatürlich zusammenkrampften, darüber fand er in ihren Krankenakten, die er von ihrem Hausarzt bekommen hatte, keinen Hinweis. Während sie sich wieder anzog, hörte Anne, wie der Schularzt im Nebenzimmer ihre Eltern zusammenstauchte. Sie sollten ihr Kind gefälligst einem Neurologen vorstellen und am besten auch gleich die Mutter, damit die Ursache für die Bewegungsstörungen gefunden würden, unter denen beide litten. Und auch das Stottern sollte von einem Sprachtherapeuten behandelt werden.

Der einzige Lichtblick an diesem Tag kam ganz zum Schluss; Anne's Intelligenz war normal entwickelt.

Während Anne in den folgenden Jahren Dauer-Patientin in den verschiedensten Arztpraxen war,  brachte Anne's Mutter die Kinder Nummer 3, 4 und 5 zur Welt, die alle nicht ganz gesund waren. Die Ärzte fingen an, Anne's Vater zu rügen ob der Verantwortungslosigkeit, mit der er kranke Kinder in die Welt setzte. Nach dem fünften Kind war endlich Schluss und Anne's Mutter ein körperliches und psychisches Wrack.

Da ihre Eltern mit den vielen kranken Kindern hoffnungslos überfordert waren, fiel zu Hause öfter der Satz: "Unter Hitler wärt ihr in der Gaskammer verschwunden...." und zwar vornehmlich dann, wenn ihr Benehmen zu wünschen übrig ließ.

In der dritten Klasse fand Anne endlich eine Freundin. Sie hieß Christiane und bei ihr taute Anne merklich auf. Sie ging aus sich heraus und stotterte auch kaum, wenn sie mit ihr sprach. Bald waren die beiden Freundinnen unzertrennlich und spielten in jeder Pause zusammen auf dem Schulhof. 

Das Glück hatte jedoch ein jähes Ende, nachdem der Pfarrer die beiden Mädchen zusammen gesehen hatte. Bevor sich Anne versah, hatte sie eine Ohrfeige vom Pfarrer kassiert, gefolgt von der Erklärung, dass Christiane evangelisch sei und aus diesem Grund als Freundin für Anne ungeeignet sei. Er würde ein  ernstes Wort mit Anne's Eltern reden müssen.... Aber wenigstens vor dem Pfarrer nahmen ihre Eltern sie in Schutz.

Aber wenig später vermasselten sie ihr Fest zur 1. heiligen Kommunion, indem sie ihr schwarze Jungenschuhe zum weißen Kleid kauften und sie so zum Gespött der ganzen Klasse machten. Zum Fototermin war Anne unauffindbar und auch zur Danksagung am Abend in der Kirche erschien sie nicht.

Kurz nachdem sie auf Anraten der Lehrer auf die Realschule übergewechselt war, begann Anne zu rebellieren. Sie wollte sich nichts mehr gefallen lassen, hatte die ewigen Arztbesuche satt und wollte einfach nur normal behandelt werden, wie die anderen Mädchen in ihrem Alter auch. Mit 13 Jahren trat Rainer in ihr Leben, der auch ein Außenseiter war. Sie und Rainer verstanden sich blind und verbrachten viel Zeit miteinander. Rainer trainierte sie wochenlang vor den Bundesjugendspielen, damit Anne nicht allzu schlecht im Laufen, Weitsprung und Werfen abschloss. Es half ein bisschen, aber Anne wurde trotzdem Letzte, wie jedes Jahr. Das Schwimmen hatte sie in Rekordzeit gelernt, nachdem ihr Vater sie einmal ins Wasser geworfen hatte und sie sofort unterging. DAS sollte ihr nicht wieder passieren, schwor sie sich.

Eines schönen Tages kündigte der Onkel aus Amerika seinen Besuch an; ein Bruder von Anne's Mutter, der sich als Teenager heimlich aus dem Staub gemacht hatte und als Bootsjunge auf einem Passagierschiff nach Amerika gelangt war. Die Nachricht, dass er nach Deutschland zu Besuch kommen wollte, schlug in der Verwandtschaft ein wie eine Bombe. Anne sprach schon ganz passabel Englisch und freute sich, ihre Fremdsprachenkenntnisse anbringen zu können.

Der Besuch aus Amerika, zu dem er seine italienisch stämmige Frau mitbrachte, verlief zu Aller Zufriedenheit. Anne hatte sich auf Englisch mit ihrem Onkel unterhalten, worauf er sie nach Amerika einlud. Sie sollte die Schulferien bei ihm verbringen und ihre Fremdsprachenkenntnisse vertiefen.  Doch Ihre Eltern sagten "Nein". Auf die Frage des Onkels, wieso nicht, antworteten sie, Anne sei behindert.



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