Ich gab ihm den Zettel zurück und verließ die Hütte, um nach Thomas zu suchen. Vielleicht konnte er mir ein wenig mehr zu der allgemeinen Situation sagen, immerhin war er im Gegensatz zu mir bei vollem Bewusstsein gewesen. Schließlich fand ich ihn am Waldrand unter einem Baum hocken. Er sah nachdenklich aus. „Hey", sagte ich und setzte mich neben ihn. „Hey. Wie geht's dir?" „Abgesehen von den Kopfschmerzen ganz gut." „Gut, ich hatte mir nämlich schon Sorgen um dich gemacht", erwiderte er und sah auf einmal bedrückt aus. „Um mich? Ach, um mich musst du dir keine Sorgen machen. Mich haut nichts so leicht um", versuchte ich ihn aufzuheitern, doch er sah mich ernst an. „Wirklich. Mir geht's gut", versicherte ich ihm.

Er rang sich ein Lächeln ab und ich erwiderte es. Es war mir ein Rätsel, warum er sich so viele Sorgen um mich machte. Immerhin kannte ich ihn ja kaum. Zugegeben, ich erinnerte mich an ihn und er sich an mich, doch das hieß noch lange nichts, auch wenn da diese seltsame Vertrautheit zwischen uns war. Wie ein unsichtbares Band.

„Und wie geht's dir mit der ganzen Situation? Ich meine, es passiert ja nicht alle Tage, dass dir dein Doppelgänger über den Weg läuft. Vor allem nicht hier", fragte er zögerlich nach ein paar Sekunden des Schweigens. „Ich glaube über den Weg laufen ist nicht ganz der richtige Ausdruck. Sie ist einfach so aus dem nichts aufgetaucht. Erstens sollte erst nächsten Monat jemand neues kommen und zweitens sollte derjenige aus der Box kommen. Nicht aus dem Labyrinth", erwiderte ich und musste lachen. Das Ganze war einfach zu bizarr. „Ja...", murmelte er nachdenklich.

„Was, wenn sie uns zum Ausgang führt?", sagte er dann schließlich. Als ich ihn bloß fragend ansah, fügte er hinzu: „Naja, sie muss ja irgendwo hergekommen sein, oder?" Ich nickte und starrte ins nichts. „Ihr Auftauchen muss einen Grund haben." Mein Blick schoss zurück zu ihm, sobald er das sagte und ich dachte bloß: Dasselbe hatte ich auch zu Minho gesagt. „Was?", fragte er, als er meinen überraschten Blick sah. „Das habe ich auch gesagt, nachdem ich herkam. Ich war besessen von der Idee, mein Auftauchen hätte irgendeinen besonderen Grund. Nur weil ich das einzige Mädchen bin. Naja, bis jetzt", erzählte ich. „Und jetzt ist dieser Gedanke wieder da. Sie... Sie hat alles verändert. Es muss irgendwas bedeuten. Ich meine, sie ist meine Schwester." Es fühlte sich seltsam an, das zu sagen, aber irgendwie auch richtig. Schwester.

„Bist du sicher, dass sie deine Schwester ist?", fragte er. „Ja, ja ich denke schon. Es ist schwer zu erklären, aber als ich gestern weg war, war da auf einmal diese Gewissheit. Ich wusste vom ersten Moment an, dass sie meine Schwester ist", erklärte ich. Er nickte. „Vermutlich irgendso ein schräges Zwillings Ding."

Und tatsächlich hatte ich das Gefühl, eine Verbindung zu ihr zu haben. In den nächsten Tagen hatte ich immer wieder Bilder von uns im Kopf, von der Zeit als wir noch klein waren. Wie wir in unserem kleinen, spärlich möblierten Haus verstecken spielten und wie wir uns vor lauter Lachen auf dem Boden kugelten. Es waren schöne Erinnerungen, doch mich beschlich das seltsame Gefühl, dass unser Leben alles andere als rosa rot gewesen war.

Ich sprach vorläufig nur mit Thomas darüber, da Newt im Moment sehr abwesend schien. Er war fast rund um die Uhr in der Krankenhütte und schlief wohl auch nicht viel. Ich hatte versucht ihn zum Schlafen zu überreden, doch er weigerte sich von ihrer Seite zu weichen. Selbst als ich ihm versicherte, dass stets jemand Wache hielt. Also verbrachte ich die nächsten Tage hauptsächlich mit Thomas.

Die allgemeine Anspannung war zu spüren, doch die meisten Lichter hatten sich inzwischen wieder beruhigt. Bis die wöchentliche Lieferung ausblieb und erneute Verzweiflung ausbrach. Die Lage eskalierte allmählich und an diesem Punkt war mit allem zu rechnen. Wir hatten zwar den Garten und das Schlachthaus, aber letztendlich waren wir auf die Lieferung von den Schöpfern angewiesen. Newt wirkte ebenfalls völlig überfordert. Auch wenn viele der Lichter auf ihn zählten, schenkte er nach wie vor seine volle Aufmerksamkeit dem mysteriösen Mädchen. Wir sprachen über nichts anderes mehr, in der Hoffnung, wenn sie aufwachte würde sie uns aus diesem Dilemma helfen.

Doch sie blieb bewusstlos und langsam schwand unsere Hoffnung Stück für Stück und die Angst wuchs. Die Lage wurde immer ernster, denn wenn die Lieferungen der Schöpfer von nun an ausblieben würden wir nicht lange durchhalten können. Keiner sprach es aus, doch tief im Innern wussten wir alle, dass ein Ausgang letztendlich die einzige Lösung war.

Die Lage verschlimmerte sich weiter, als dann auch noch Ben am helllichten Tag gestochen wurde und Thomas angriff. Ich war zu dem Zeitpunkt im Labyrinth, weswegen ich erst davon erfuhr, als Thomas es mir am Abend aufgeregt erzählte.

„Und dann hat er auch noch behauptet, ich wäre böse und er könne sich an mich erinnern!" Er versuchte ruhig zu bleiben, doch ich merkte ihm an, dass er aufgelöst war. „Wie kann er sich denn an dich erinnern?", fragte ich. „Newt meinte, diejenigen die gestochen wurden könnten sich an gewisse Dinge erinnern. Allerdings sprechen sie nie darüber, weil es zu schrecklich ist", entgegnete er. „Und was machen sie jetzt mit ihm?" „Jeff hat ihm irgend so ein Zeug gegeben, das sie Griewerserum nennen. Angeblich macht er jetzt die Verwandlung durch. Keine Ahnung, was das bedeutet", erwiderte er schulterzuckend.

Es stellte sich heraus, dass die sogenannte Verwandlung anscheinend so schmerzhaft war, dass Ben rund um die Uhr wie am Spieß schrie. Newt hatte mir verboten, in sein Zimmer zu gehen. Er wollte nicht, dass ich das mit ansah. Ich wusste nicht genau, was er damit meinte, aber ich wollte es um ehrlich zu sein auch nicht herausfinden.

Und als es dann endlich vorbei war, wurde es nicht viel besser. Er war immer noch extremst aggressiv, was laut Newt ungewöhnlich war. Außerdem behauptete Ben weiterhin, Thomas wäre böse und sogar, dass er ihn mit den Schöpfern gesehen hätte. Die meisten hielten das natürlich für Blödsinn, doch Newt und ich hatten unsere Bedenken. Da ich und Thomas uns in meiner Erinnerung sehr nahe standen, konnte es gut möglich sein, dass er wie ich die anderen auf Bildschirmen beobachtet hat. Jedoch waren das bis jetzt alles nur Spekulationen.

Schließlich waren Alby und Newt dazu gezwungen, ihn in den Bau zu werfen und eine Versammlung einzuberufen. Da Thomas und ich nicht dabei sein durften, saßen wir eine knappe Stunde lang angespannt im Wald und warteten. Irgendwann kam dann Newt zu uns, um uns das Ergebnis mitzuteilen.

„Und?", fragten Thomas und ich beinahe gleichzeitig und sprangen auf. „Er wird heute Abend verbannt", sagte er mit einem bitteren Unterton, den ich nicht ganz deuten konnte. Ich wusste nicht, was es bedeutete, aber ich war mir sicher es war nichts Gutes. Als Thomas gerade nachfragen wollte, unterbrach Newt ihn. „Ihm ist nicht mehr zu helfen." Sein todernster Gesichtsausdruck jagte mir einen Schauer über den Rücken.

Als es so weit war, kam Newt uns holen und brachte uns zum Westtor. So langsam begriff ich, was geschehen würde und ein Blick zu Thomas verriet mir, dass er dasselbe dachte. Und als ich dann die langen Holzstäbe sah, die die Hüter in den Händen hielten, hätte ich mich am liebsten umgedreht und wäre wieder gegangen. Aber Thomas war hier und das machte das Ganze ein wenig einfacher.

Thomas und ich blieben etwas abseits der Menge stehen und Newt ging zu den anderen Hütern. Jedoch konnte ich Minho nirgendwo entdecken. Ein paar Minuten später wusste ich wieso. Er holte Ben, der sich natürlich wehrte, doch Minhos Ausdruck war völlig kalt. Ich hatte ihn noch nie so emotionslos gesehen, doch ich wusste, dass es nur eine Maske war. Es war ihm ganz und gar nicht egal, denn er kannte Ben. Vermutlich am besten von uns allen.

Er führte ihn in die Mitte des Halbkreises, den die Hüter gebildet hatten, durchschnitt seine Fesseln und reihte sich dann bei den anderen ein. Dann hörte ich auf einmal das vertraute Knacken. Die Hüter fingen an, Ben mit ihren Holzstäben zwischen die sich schließenden Tore zu schieben. „Nein! Bitte, bitte tut das nicht! Bitte helft mir!", schrie Ben. Ich hatte ihn nie besonders gut gekannt, aber es tat mir in der Seele weh, das mit anzusehen. Denn auch wenn er sich nicht so verhielt, war er immer noch ein Mensch.

Ich griff nach Thomas Hand, die sich warm anfühlte. Behutsam streichelte er mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Ich versuchte, mich auf seine Berührung zu konzentrieren, was mich wenigstens ein wenig beruhigte.

Als sie Ben dann schließlich komplett bis ins Labyrinth gedrängt hatten, schlossen sich die Tore. Keiner sagte ein Wort, es war beinahe totenstill und ich brauchte einen Moment um zu begreifen, dass ich Ben nun nie wieder sehen würde. Er war dem Labyrinth und somit den Griewern hilflos ausgeliefert.

Just Human ⎡ The Maze Runner ⎦Where stories live. Discover now