Die nächsten Stunden sagten sie kaum ein Wort. Ana hing ihren Gedanken nach und Michael wusste, so wie schon immer, wann es angebracht war zu reden und wann nicht. Seine Hand blieb die meiste Zeit über fest um ihre zitternden Finger geschlossen und er fuhr die Strecke konzentriert und zügig, mit nur einer kurzen Kaffeepause, durch.

Als sie bald darauf an dem grauen Krankenhauskomplex ankamen, dämmerte es bereits und die beleuchteten Fenster sahen fast bedrohlich aus. Hinter irgendeinem dieser kalten Fenster wurde grade ihr Vater operiert, der Gedanken brachte sie kurz ins wanken und sofort war Michael wieder an ihrer Seite, sein Arm an ihrer Taille betrat er mit ihr den Empfang und fragte sofort nach Zimmer und Stockwerk.
Er ließ auch im Aufzug nicht von ihr ab, erst als sie den Wartebereich betraten und auf den Rest der Familie trafen, löste sich sein Arm und wie ein kleines Kind stürzte sie auf ihre Mutter und ihren Bruder zu.

Die nächsten Stunden vergingen quälend langsam. Der sterile grüne Warteraum war unheimlich still, nur Gemurmel und trockenes Husten war ab und zu zu hören. Gegen 11 beschloss Amir das es an der Zeit war etwas anderes zu sich zu nehmen, außer Kaffee und so griff er sich ihre Mutter und die beiden gingen geknickt in Richtung Mensa, während Ana und Michael, der während dieser ganzen Zeit nicht von ihrer Seite gewichen war, weiterhin unruhig auf ihren Stühlen hin und her rutschten und die Tür vor sich anstarrten.
"Ich bin so müde." Sagte Ana irgendwann und ihre Stimme klang fremd und schwach,
"Ich hab gestern noch so lange gemacht mit Kimba, weil ich dachte heute wird ein ganz gechillter Tag..." Sie atmete scharf ein. Michael sah sie sanft lächelnd an und faltete seinen Mantel in seinem Schoß zusammen und zog sie, mit etwas Nachdruck an sich, platziere ihren Kopf auf dem wohlriechenden, weichen Stoff und strich über ihre Schläfe. Ana zog ihre Beine an ihren Körper und schloss die Augen. Das Rauschen in ihrem Kopf beruhigte sich etwas und tatsächlich nahm die Müdigkeit bald auch die letzen Winkel ihrer Gedanken ein und sie fiel in einen unruhigen Schlaf.
Sie sah Blut und Messer, dann das um Jahre gealterte, graue Gesicht ihres Vaters, wie durch trübes Glas beobachtete sie die OP Szene, sie öffneten den Brustkorb ihres Vaters, sie wollte nicht hinsehen, aber sie konnte sich nicht abwenden, ihre Schreie blieben tonlos als sie sich auf das schlimmste einstellte. Doch es kam nichts schlimmes zum Vorschein, keine Organe, keine Knochen, nur ein helles Licht leuchtete aus der Mitte seines Torsos. Ana und die Ärzte schienen hypnotisiert als das warme Licht den ganzen Raum mit Wärme füllte, grade als das strahlen sie im ganzen einzunehmen schien, wachte sie langsam und verwirrt auf. Ana lag halb auf Michaels Schoß und halb an seinem Bauch. Ihre Hände an ihn gepresst. Auch er war eingeschlafen, beide Arme um sie geschlossen, lehnte sein Kopf gegen die Wand und sein Mund stand sachte offen. Ana lächelte und einen Moment schmiegte sie sich fester an ihn, bis er plötzlich mit einem lauten grunzen erwachte und auch Ana von ihm hochschreckte. Die beiden sahen sich einen Moment verstohlen an, bevor sie ihre Kleidung ordneten und sich wieder aufsetzten und erst dann bemerkten, wie Anas Mutter und ihr Bruder ihnen müde feixend gegenüber saßen,
"Guten Morgen ihr Süßen" Sagte Amir und reichte den beiden wässrigen Kaffee,
"Danke Schnucki..." Antwortete Michael mit tiefer Schlafstimme und alle lachten erschöpft. Vor allem Amir grinste breit und Michael erwiderte das, bahnte sich da etwa ein Friedensvertrag an? Die beiden verschwanden jedenfalls kurz darauf auf eine Zigarette vor der Tür und Ana setzte sich seufzend zu ihrer Mutter.
"Wie lange haben wir geschlafen?" Fragte sie gähnend ihre Mutter,
"Vielleicht eine Stunde?"
"Hmm ok, tat gut. Wie geht's dir Mama..."
"Ach Mäuschen, es geht. Ich versuche nicht den Verstand zu verlieren..." Sagte sie und tätschelte Anas Wange, sie schwieg einen Moment aber etwas schien sie zu quälen, Ana sah sie geduldig an, bis ihre Mutter sich erneut räusperte,
"Ich und Papa haben uns heute morgen gestritten weißt du, wieder irgendwas wegen dem Restaurant... Ich habe einfach Angst... Das das unsere letzten Worte zueinander gewesen sein könnten... Was ist wenn er es nicht schafft und mich in seinen letzen Momenten gehasst hat-" Und plötzlich weinte ihre Mutter vor ihr, ließ den Kopf hängen und bedeckte ihren Mund. Auch Ana fühlte wieder Tränen aufsteigen und legte den Arm um sie. Sie atmete tief ein und wusste das sie jetzt an der Reihe war, Stärke zu zeigen,
"Weißt du... Vor einer Woche haben Papa und ich telefoniert..." Und so erzählte sie mit ruhiger Stimme von dem Gespräch, der Geschichte vom Blick, und der perfekten Liebeserklärung, die ihr Vater an seine Frau gemacht hatte und die Tränen der Verzweiflung wandelten sich langsam zu Tränen der Rührung. Beide lächelten sich selig an und umarmten sich innig, bis Michael und Amir um die Ecke kamen und sich wieder zu ihnen setzten.
Und obwohl sie noch nie in ihrem Leben mehr Angst hatte, wusste Ana in diesem Moment als sie Michael ansah, wie er aufmunternd Amir auf den Rücken klopfte und anschließend ihrer Mutter einen weiteren Becher Kaffee reichte, plötzlich ganz genau wovon ihr Vater gesprochen hatte. Noch bevor sie richtig begreifen konnte was sie grade erkannte hatte, wurde hinter ihnen die Tür aufgestoßen und eine Schwester kam auf sie zu gewuselt.

Alle vier standen wortlos auf und versuchten den Blick der jungen Frau zu lesen die sich mit leiser, ernster Stimme räusperte,
"Sind sie Familie Iman? Herr Iman hat die Operation überstanden, er ist jetzt stabil."
Ana spürte auf einmal wieder das Licht aus ihrem Traum in sich, und die Erleichterung zwang ihre Mutter zurück in den Sitz wo sie laut, gelöst seufzte und sich durchs Haar fuhr.
"Wann können wir zu ihm." Fragte Amir sofort und ging auf die Schwester zu,
"Ich befürchte das ist heute nicht möglich, ich würde ihnen nahelegen nachhause zu gehen, zu schlafen und morgen früh wieder zu kommen. Dann wird er sicher ansprechbar sein!"
Sie bedankten sich und Anas Mutter wurde gebeten einige Papiere einzusehen und blieb mit Amir noch eine Weile zurück. Ana redete vorab ihrer Mutter noch die Idee aus, in ihrem vollgestellten Kinderzimmer zu übernachten und wich stattdessen auf ein Hotel in der Nähe aus, was sie schweren Herzens akzeptierte, bevor sie sich innig verabschiedeten.

Auch Michael war zu müde für die Heimfahrt und so fuhren sie eine halbe Stunde zum nächsten Hotel.
Die Fahrt war wesentlich ausgelassener, die Erleichterung über den verbesserten Zustand ihres Vaters ließ die beiden fast aufgedreht wirken. Sie scherzten und redeten, mokierten sich über das kleine Hotel, das laut Google zwar außerordentlich gute Bewertungen hatte, aber von außen eher schäbig aussah.
Als sie eintraten wurden sie von Neunziger Jahre Kitsch überflutet und der pubertäre Typ in der Nachtschicht war wenig begeistert von Zwei weiteren Gästen.
"Gibt ne scheiss Messe hier um die Ecke, nur besoffene Versicherungsfutzis... Wir haben noch ein Doppelzimmer. Ist durch ne Tür getrennt aber halt theoretisch ein Zimmer. Is dat ok?"
Ana und Michael sahen sich kurz an, nickten dann aber zögerlich, was blieb ihnen auch anderes übrig, und wurden dann von dem charmanten Zeitgenossen zur Suit geführt, nicht ohne noch einen
"Du siehst aus wie dieser Rapper Cindy wusstest du das?" Kommentar reingedrückt zu bekommen, den Michael mit einem trockenen,
"Kenn ich nicht." Quittierte bevor er die Tür zuknallte.

Die Zimmer waren nicht weniger kitschig als der Rest des Hauses. Aber es war sauber und die Betten waren bequem und frisch gemacht. So müde wie Ana war, würde sie auch in nem Vorgarten schlafen können, dachte sie und zog sich endlich die Schuhe aus und atmete kurz durch. Sie wollte jetzt einfach raus aus der Jeans, rein ins Bett und schlafen, aber die einzige Kleidung die sie nach dem panischen Aufbruch bei sich hatte, waren die heute erstandenen Teile aus der Boutique, die nicht wirklich zum schlafen geeignet waren.
Ana erinnerte sich aber im selben Moment an die Sporttasche, die Michael aus dem Wagen mitgenommen hatte und wusste das es sich um Wechselkleidung für das Interview oder Konzert handeln würde, sie kannte ihn zu gut. Eigentlich wollte sie ihn ungerne um noch einen Gefallen bitten, aber was hatte sie schon zu verlieren.
Zögerlich klopfte sie an die Tür zum Nebenzimmer und Michaels müde Stimme rief "Komm rein!"
Er lag ebenfalls noch voll angezogen auf dem Bett und hatte die Schuhe abgestriffen.
"Alles ok?" Sagte er und sah sie prüfend an,
"Hm? Jah, auf jeden, danke, ich wollte nur fragen ob du ein Shirt hast zum schlafen?" Sagte sie und deutete auf die Tasche, er nickte nur und beobachtete, wie sie ein weißes Oversize Shirt auskramte und ihm dann dankbar zu lächelte.
"Danke... Dafür und für alles..."
"Ist schon ok." Sagte er und lächelte ebenfalls müde,
"Nein ich weiß das du mich grade hasst, zurecht und... das ist nicht selbstverständlich was du getan hast. Danke wirklich."
Er schwieg einen Moment und sah sie eindringlich an.
"Gern geschehen."
Ana ging langsam zur Tür und drehte sich dann nochmal um,
"Mein Vater mag dich sehr, ein guter Mann, hat er immer gesagt. Er mag dich... viel mehr als Romeo glaube ich." Sagte sie ruhig und nickte, Michaels Lächeln verwandelte sich in ein breites grinsen,
"Was soll ich sagen, er ist ein weiser Typ. Du solltest öfter auf ihn hören."
Ana lachte heiser,
"Ja das sollte ich... Gute Nacht."
Und mit diesen Worten schloss sie die Tür, streifte in zwei kurzen Bewegungen ihre Kleidung ab und das Tshirt über und schlief mit seinem Duft in der Nase, erschöpft ein.

Berliner Nächte (Shindy FF)Where stories live. Discover now