Im Krankenflügel

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Ich wagte es nicht, ein weiteres Mal zu fragen und verharrte in meiner Position, bis Marlene sich beruhigt hatte.

Doch Marlene beruhigte sich nicht. Es gelang ihr nicht, die Fassung wieder zu erlangen, ihr Tränenfluss wollte einfach nicht versiegen. Keuchend mühte sie sich ab, einen zusammenhängenden Satz herauszubringen, doch sie scheiterte kläglich.

Nein.

Scheiße, nein.

Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.

Marlenes Weinen war laut in der Stille. Viel zu laut. Betäubt schüttelte ich den Kopf, niemand von uns sagte ein Wort. Ich weigerte mich, das zu glauben, obwohl es offensichtlich war. Ich musste es hören.

"Wo ist Mary? Ich will zu ihr!", sagte ich. Mir fiel kaum auf, wie weinerlich ich klang. Ich war ein einziges Kartenhaus, das jede Sekunde zusammen brechen konnte.

Marlene reagierte gar nicht erst, sie schrie nur laut auf vor Qualen, was mich zusammen zucken ließ. Alice hob den Kopf.

"Sie ist tot", sagte sie schließlich. Alice sprach die Worte so rasch aus, als würden sie dadurch weniger schlimm werden. Marlene ließ ihren Tränen nun freien Lauf und schluchzte hemmungslos, während Alice nur eine einzige Träne die Wange herunter lief.

Fassungslos fiel mein Kopf auf mein Kissen zurück. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich an die Decke und versuchte krampfhaft, diese Nachricht zu verstehen, doch diese drei Wörter ergaben für mich keinen Sinn, egal wie ich es drehte und wendete.

Mary.

Ich schloss die Augen, um die Tränen wegzublinzeln.

Mary, das Mädchen mit dem honigblondem Haar und den hellbraunen Rehaugen.

Mary, ohne die jeder Tag ein verlorener Tag war.

Mary, die mir immer ein breites Lächeln ins Gesicht zauberte.

Mary, die es sogar geschafft hatte, den Frauenschwarm Sirius Black in ihren Bann zu ziehen.

Mary, die stundenlang über ihre eigenen, schlechten Witze kichern konnte, die niemand außer ihr verstand.

Mary, die ich an unserem allerersten Tag hier in Hogwarts hatte trösten müssen, weil sie Heimweh nach ihrer Familie hatte.

Mary, die - klug wie sie war - über die Dinge nachdachte und zum richtigen Schluss kam.

Mary, die strahlende Sonne in Person.

Mary, ein Mädchen mit Träumen und Zielen.

Mary, die sich in diesem Jahr von einem liebenswerten Kätzchen in eine mutige Löwin verwandelt hatte. Und die genau dafür hatte sterben müssen.

Mary, meine Mary.

"Lily? Bist du okay?", fragte Alice nun vorsichtig mit einem Schniefen. Ich reagierte nicht und gab mich der Erinnerung hin.

Ich wusste noch genau - es musste in der ersten Klasse gewesen sein - als Mary und ich uns als Anni-Frid Lyngstad und Agnetha Fältskog zum Fasching verkleidet hatten. Damals hatten wir unsere extreme ABBA-Phase gehabt. Marlene war lieber als Celestina Warbeck und Alice als Cher gegangen, dezent geschminkt und unauffällig angezogen. Nun, Mary und ich waren in knappen Glitzerkleidern und mit Spielzeug-Mikros ausgestattet durch die Korridore gehüpft und hatten lauthals und schief Honey Honey  gesungen. Dabei hatten wir provokant mit unseren schmalen Kinderhüften gewackelt, bis wir von Professor McGonagall eine Verwarnung aufgrund von "unerträglichem Lärm und unangebrachter Kleidung" bekommen hatten. Am Ende des Tages hatten wir albern kichernd bei ihr im Büro gesessen und uns eine Predigt über züchtiges Verhalten anhören müssen, weil die zwöljährige Mary in ihrem Übermut während der Kräuterkundestunde den verdutzten Sirius angetanzt und dabei ausgelassen "Gimme gimme gimme a man after midnight! Won't somebody help me chase the shadows away?", gesungen hatte. Bei der Erinnerung hätte ich fast gekichert. Fast.

CollideWhere stories live. Discover now