Auf dem Flur

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Ich legte meine Feder weg und ging nach vorne, um meine Arbeit abzugeben. Tatsächlich war ich wie immer eine der letzten, die mit dem Schreiben fertig waren. Die meisten anderen Gryffindors und Slytherins unterhielten sich bereits oder beschäftigten sich mit etwas anderem.

Das lag jedoch nicht daran, dass mir wie Peter Pettigrew vor mir oder Mary neben mir keine Antwort mehr einfiel, nein, ich schrieb einfach zu viel.

Insgesamt hatte ich fünf Rollen Pergament füllen können. Als ich wieder an meinem Platz saß, guckte ich mich unauffällig um: Mary kaute verzweifelt an ihrer Feder, Alice schrieb wohl schon wieder an einem neuen Song, Marlene flirtete über die Schulter mit Sirius, Narzissa Black lackierte sich ihre Nägel, Remus überflog mit gerunzelter Stirn die Fragen, Sirius kippelte - cool und lässig wie immer - mit seinem Stuhl, ohne Marlene aus den Augen zu lassen und Severus lachte dreckig mit Mulciber über irgendeinen gemeinen Witz.

Ich verzog das Gesicht: Sev hatte sich echt verändert. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum er sich mit solchen Leuten ab gab.

Das war widerlich!

Mein Blick glitt weiter und fiel auf James. Zu meiner Verwunderung sah auch er mich an und lächelte. Mein Herz fing wild an zu klopfen und peinlicherweise ließ ich meine Feder fallen. Mit rotem Kopf hob ich sie umständlich auf und schmiss dabei natürlich noch den ganzen Stapel Bücher vor mir runter.

Durch die Unruhe alarmiert fragte Professor Binns mit träger Stimme: "Gibt es ein Problem, Herrschaften?" Die anderen kicherten und schnell hob ich meine Hand.

Völlig überrumpelt rief der Geist mich auf. Er hatte wohl nicht erwartet, in seinem Unterricht mit einem Schüler sprechen zu müssen. Nun, da musste ich ihn leider enttäuschen.

"Ja, Ms . . .", forderte er mich mit monotoner Stimme auf.

"Evans, Sir", unterbrach ich ihn. "Dürfte ich bitte einmal die Toilette aufsuchen?" Ich musste meine Frage wiederholen, da er mich beim ersten Mal nicht verstanden hatte. Verwirrt sah Professor Binns mich an: "Ja . . . natürlich, gehen Sie nur, Ms Eran . . .", doch den Rest hörte ich schon nicht mehr, so schnell bin ich zur Tür gestürmt.

Draußen atmete ich erst einmal tief durch.

James Potter.

Dieser Junge brachte mich noch um meinen Verstand! Ich hätte niemals erwartet, dass mich ein Junge so verrückt machen könnte.

Schon gar nicht Potter . . .

Eigentlich war es ziemlich lustig, weil ich früher immer die ganzen naiven Mädchen aus tiefstem Herzen verachtet hatte, die sich Hals über Kopf in Typen wie Potter oder Black verliebten und in deren Gegenwart anfingen zu kichern oder rot wurden.

Na, super.

Jetzt war ich selbst eine von ihnen. Aber das stimmte ja nicht ganz, schließlich nervte James mich schon seit Ewigkeiten mit der Frage, ob ich mit ihm ausgehen wollte. Und er erwiderte meine Gefühle.

Als ich den Flur entlang ging, hatte ich schon wieder ein breites Lächeln auf den Lippen.

Vor dem Spiegel spritzte ich mir etwas Wasser ins Gesicht. Egal wie süß James war, wie der letzte Trottel wollte ich mich bestimmt nicht verhalten, erst recht nicht in seiner Gegenwart . . . Ich musste mich zusammenreißen.

"Komm schon, Lily", knurrte ich wütend und rief mich selbst zur Ordnung.

Ich hörte in meinem Kopf beihnahe Marlenes belehrende Stimme: "Mach dich rar! Er wird schnell das Interesse an dir verlieren, wenn er weiß, dass du leicht zu haben bist. Zeig nicht so offensichtlich, wie sehr du ihn magst."

Gleichzeitig wusste ich, was Alice dazu sagen würde: "Nein, Lily, zeig ihm bloß nicht die kalte Schulter! Er hält dich sonst noch für eingebildet oder zickig, und das willst du doch nicht. Warum solltest du deine Gefühle vor ihm verbergen? Das wäre doch albern."

Genervt fuhr ich mir durch mein rotes Haar. Alice hatte es mit ihrem Frank ja auch leichter. Er war ganz anders als James, viel schüchterner und ruhiger. Ich überlegte einen Moment, was Mary mir wohl raten würde.

Ich stellte mir vor, wie sie mich mit ihren großen, unschuldigen Rehaugen anguckte: "Denk nicht so viel darüber nach. Sei einfach du selbst, in dich hat James sich schließlich verliebt."

Ich seufzte innerlich auf und lächelte. Schon praktisch, wenn man seine Freundinnen in- und auswendig kannte. Zuversichtlich richtete ich mich auf und legte mir meine Haare zurecht. Mary hatte Recht. Beziehungsweise die imaginäre Mary in meinem Kopf . . .

Ja. Ich würde einfach ich selbst sein.

Mit schnellen Schritten ging ich über den Flur, als sich plötzlich eine Hand von hinten auf meine Augen legte und jemand mit dem Zeigefinger sachte gegen meinen Mund tippte. Ich keuchte erschrocken auf, dann drehte mich jemand herum und nahm die Hand weg: Potter.

Das hätte ich mir ja fast denken können.

"Verdammt, James!", fluchte ich wütend und schubste ihn, während er mich mit seinem mich wahnsinnig machendem Ich-bin-James-Potter-und-ich-weiß-wie-unwiderstehlich-ich-bin-Lächeln angrinste.

"Was, wenn uns jemand sieht?", fragte ich ihn vorwurfsvoll, doch eigentlich war ich ihm schon gar nicht mehr böse.

"Dann weiß er, dass ich in das schönste und klügste Mädchen der Schule verliebt bin", erwiderte James nur und nahm mein Gesicht in beide Hände. Ich schloss für einen Moment die Augen.

Er küsste mich, erst vorsichtig und sanft, dann fordernd und wild. Seine Lippen fühlten sich weich und voll an, und ich konnte nicht anders, als leise aufzuseufzen und ihn zurück zu küssen. Wir hielten einen Augenblick inne, ich lehnte mit dem Rücken an der Steinwand und James hatte seinen linken Arm neben mir aufgestützt.

Unsere Nasenspitzen berührten sich fast und ich wagte nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.

Es war einfach unglaublich schön, so mit ihm dazu stehen und ihn anzusehen.

Dieser Moment gehörte nur uns.

Schließlich löste ich mich und schob ihn sanft weg. "Komm, wir müssen zurück!", sagte ich schweren Herzens. "Müssen wir nicht! Wir können heute einfach mal blau machen. Nur du und ich! Lass uns zum Schwarzen See gehen oder zum Quidditchfeld, dann zeige ich dir, wie man auf einem Besen fliegt . . .", schlug er vor und gestikulierte lebhaft mit den Händen.

Ich beobachtete ihn und legte leicht den Kopf schief. So gut mir die Idee auch gefiel, wir hatten gerade mal die erste Stunde hinter uns und ich wollte nicht den Rest des Tages schwänzen.

"Komm schon, Evans", forderte er mich auf und grinste mich spitzbübisch an. "Gib dir einen Ruck!" Ich schüttelte lächelnd den Kopf: "Professor Binns wird unser Fehlen bemerken."

Er sah enttäuscht aus. "Ich bitte dich, Lily, Professor Binns bemerkt nie irgendetwas!" Ich wollte keinen Streit und fügte schnell hinzu: "Wie wäre es mit heute Abend?"

Augenblicklich hellte sich sein Gesicht auf. "Mit Vergnügen!", er machte eine alberne Verbeugung, "Ich erwarte Sie um 19:00 Uhr am Schwarzen See, Ms Evans!"

Ich gab ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf, dann küsste ich ihn ein letztes Mal.

"Lass mir fünf Minuten Vorsprung, ja?", meinte ich und beeilte mich, um schnell zum Klassenzimmer von Professor Binns zurück zu kommen. Wie James voraus gesagt hatte, war unser auffällig langes Fehlen von Binns unbemerkt geblieben, Alice jedoch musterte mich fragend.

Ich schüttelte nur stumm den Kopf. "Später!", versprach ich.

Dann zögerte ich kurz. Sollte ich ihr von James und mir erzählen?

Aber dann würden es auch Mary und Marlene erfahren müssen . . .

CollideWhere stories live. Discover now