Briefe aus Cokeworth

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Lily P. o. V.

Mit einem dumpfen Gefühl im Bauch wachte ich am nächsten Morgen auf und quälte mich mühsam aus dem Bett. Auch meine Freundinnen standen langsam auf und warfen mit mitleidige Blicke zu. Gestern Abend hatte ich ihnen alles noch brühwarm und weinend erzählt. James traf ja gar keine Schuld, das sagte ich mir immer wieder. Wütend war ich nur auf mich selbst und auf meine naive Dummheit. Verdammt, aber davon würde das ätzende Schamgefühl auch nicht weggehen! Marlene biss sich mit einem schlechten Gewissen auf die Lippe und setzte sich zu mir: "Lily, es tut mir so Leid, dass ich dich noch bestärkt habe. Gott, das war echt blöd von mir! Sorry . . ." Ich winkte mit einer schnellen Bewegung ab und blinzelte die Tränen weg. Wegen dem Kloß in meinem Hals traute ich mich nicht, etwas zu sagen. Meine erstickte Stimme würde verraten, wie schlecht es mir wirklich ging und ich hatte keine große Lust, schon wieder loszuheulen. "Schon okay", presste ich hervor und mir entfuhr ein weiteres Schluchzen. Marlene strich mir sanft über den Rücken und ich schenkte ihr ein trauriges Lächeln. Ernsthaft, ich machte ihr keine Vorwürfe. Die machte ich nur mir selbst. Mit einem Räuspern sammelte ich mich und packte meine Schulsachen zusammen. Beim Frühstück schaufelte ich drei Schüsseln Jogurth mit Himbeeren in mich hinein, ohne wirklich zu realisieren, was ich da überhaupt zu mir nahm. Es machte keinen Unterschied. Irgendwann schälte ich mir noch betrübt eine Banane, was mir ein paar besorgte Blicke von Mary, Alice und Marlene einbrachte, da ich Bananen nicht mal mochte. Und? War doch sowieso egal. Nachdem ich am Frühstückstisch genug Trübsal geblasen hatte, ging es in die Kerker zu Zaubertränke. Der Unterricht würde mich jetzt gewiss ablenken, zumindest hoffte ich das. Tatsache war jedoch, dass ich in Zaubertränke wie eine wandelne Leiche da saß und mich in Selbstmitleid suhlte. Zumindest hielt James sich an sein Versprechen und belästigte mich nicht, stattdessen hatte er mir nur beim Eintreten in den Kerker reserviert zugenickt und sich dann mit Sirius und Remus unterhalten. Merlin, es hatte so weh getan, ihn aus der Ferne betrachten zu müssen und zu wissen, dass er nicht mehr mir gehörte. Ich glaube, ich hatte ihn nie so ganz geschätzt und jetzt vermisste ich ihn schmerzlich. Jedes Mal, wenn er Sirius auf seine schelmische Art angrinste oder sich durch das schwarze Haar fuhr, machte mein Herz einen Satz und zerbrach im Sprung. Mit einem lauten Scheppern zerbrach es auf dem Grund meiner Seele. Autsch. Die Tränen brannten in meinen Augen. Meine Güte, wieso war ich plötzlich so emotional? Wie viel Wasser hatte ich denn bitte in mir, dass ich noch nicht komplett ausgetrocknet war? Mehrmals holte ich tief Luft, doch es half nicht. Der Gedanke, vor allen anderen im Unterricht zu heulen anfangen zu müssen, machte mich fertig und der Kloß im Hals schwoll weiter an. Um mich von meinem Kummer abzulenken, konzentrierte ich mich in Gedanken auf  das erstbeste Lied, was mir einfiel: Something von den Beatles. Sirius hatte es heute Morgen beim Frühstück gesummt, während James mit seinen Fingern den Takt auf den Teller geklopft hatte. Die Zunge hatte er dabei voller Konzentration zwischen den Zähnen gehabt und seine braunen Augen hatten gefunkelt. Shit. Hektisch rief ich mir die Zeilen in Erinnerung:

Something in the way she moves
Attracts me like no other lover
Something in the way she woos me

I don't want to leave her now
You know I believe and how

Die Melodie nahm in meinem Kopf Gestalt an. Es war ein wunderschöner Song und ich ging ihn in Gedanken immer und immer wieder durch. Zu meinem Glück funktionierte es und der Kloß verschwand. Der Rest des Tages verlief ruhig und am Abend weinte ich nicht mehr. Eine merkwürdige Ruhe hatte mich erfasst und schweigend saß ich in einem der roten Sessel. In der Großen Halle fand ein bunte Weihnachtsparty statt mit Plätzchen und Alkohol. Juhu. Mary hatte mich nur ungern allein lassen wollen, auch Alice und Marlene hatte es sichtlich Überwindung gekostet. Aber ich brauchte ihre Gesellschaft gar nicht, ihre Blicke verschlimmerten alles nur. Nicht mal "Verstand und Gefühl" von Jane Austen konnte mich so richtig aufmuntern und das war schon ein starkes Stück. Seufzend klappte ich mein Buch zu und kaute an meinem Daumen herum, als genau in diesem Moment eine große Schleiereule gegen das Fenster des leeren Gryffindorgemeinschaftsraums klopfte. Verwundert sprang ich auf und ging zögernd hin, um ihr den Brief abzunehmen. Auf dem Umschlag las ich meinen Namen. Lily Evans. Ich schluckte schwer, nahm den Brief an mich und gab der Eule ein paar Knuts als Bezahlung. Mit zitternden Fingern öffnete ich den Umschlag und heraus fiel ein Blatt Papier. Neugierig hob ich es auf und stellte erfreut fest, dass es von meinen Eltern war. Bereits am Samstagmorgen würde ich mit dem Zug nach London fahren und schon am Abend könnte ich bei Mum und Dad sein. Doch trotzdem verspürte ich ein ungutes Gefühl, als ich die ersten Zeilen anfing zu lesen.

CollideWhere stories live. Discover now