Kapitel 44 [überarbeitet]

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Ich trat an die kühle Luft und atmete ein paar Mal tief Luft. Hinter mir verabschiedeten sich meine Freunde und machten sich auf ins Dorf, um überall die Nachricht der Wahl zu verbreiten. Es würde nicht länger als ein paar Stunden brauchen, bis jeder davon wissen würde, und dann würden sie sich alle in ihren Gruppen treffen, um ihre Kandidaten aufzustellen. Ich war mir sicher, dass man es besser machen konnte als ich es gerade tat. Aber wir hatten einfach nicht genug Zeit. Wir spielten ein Glücksspiel und waren blind.

Weiße Atemwolken traten mir aus dem Mund. Als ich den Mantel enger zog, bemerkte ich Ethan. Er saß in einem Baum in der Ferne und beobachtete mich, die blonden Haare zu einem Zopf im Nacken zusammengebunden. Seit meinem Anfang hier hatte er mir das Leben schwergemacht. Sobald ich dann hatte herausfinden wollen wer er war und was für ein Ziel er verfolgte, verschwand er und tauchte erst wieder auf, wenn es um mich herum chaotisch wurde. Und niemand schien wirklich zu wissen, woher der Mann kam.

Ich beschloss, ihn endlich selbst zu fragen. Ich machte ein paar Schritte über das Holz, doch eine Stimme hielt mich auf. Sie sagte meinen Namen und ließ mich stocksteif stehen bleiben.

Der Wind wehte den Geruch meiner Mutter zu mir herüber. Ich atmete ihn ein, doch er wirkte fremd und vertraut zugleich. Ich drehte mich zu ihr um. Sie hatte sich ihr langes braunes Haar zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fiel. Für einen Moment suchte ich die Ähnlichkeit zwischen ihr und Emma, die ich immer so sehr beneidet hatte. Doch sie war verschwunden.

Bevor ich mich an meine Mutter richtete, sah ich noch einmal in den Baum in der Ferne. Ethan war verschwunden, so, als ob er nie dagewesen wäre. Ich seufzte leise.

„Diane", wiederholte Mum meinen Namen. Ich schloss die Augen, erinnerte mich an Calums unausgesprochenen Wunsch, dass ich mich mit ihr vertragen sollte. Vorsichtig drehte ich mich zu ihr um.

„Es tut mir leid, Mum", sagte ich und spürte erst mit dem Aussprechen dieser Worte, wie ernst ich es tatsächlich meinte.

„Nein, das muss es nicht." Tränen standen ihr in den Augen. Keinen Meter war sie von mir entfernt – und doch war die Distanz zwischen uns unüberbrückbar. Zitternd atmete Mum ein und erhob nun wieder ihre Stimme. Sie klang dünn und unsicher. Fast schien es, als würde der Wind ihre Worte davontragen können.

„Dein Vater und ich, wir haben euch geliebt, mehr als alles andere."

„Ich weiß", erwiderte ich leise. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

„Ich würde alles genauso wieder machen. Deine Schwester – deine leibliche Schwester, sie war unser Schicksal. Ich bereue es nicht, dich aufgenommen zu haben."

„Ich weiß", wiederholte ich. Meine Stimme war kaum mehr als Flüstern. Tränen rollten Mum über die Wangen. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf meine Atmung.

Mehr konnten wir nicht sagen. Als ich die Augen wieder öffnete und die Frau ansah, die mich großgezogen hatte, wurde mir bewusst, dass sie nicht hierhergehörte. Nicht an diesen Ort, nicht mit diesen Leuten. Sie sollte keine Waffen tragen müssen. Sie hatte über Leben wie dieses hier geschrieben, in ihren Büchern. Sie war auf Drachen geritten, hatte Liebeskummer bekämpft und Trolle aufgesucht; sie hatte Zauberstäbe in die Hände kleiner Kinder gegeben und Teppiche fliegen lassen. Doch nichts davon hätte jemals real werden sollen.

Meine Mutter lächelte mir noch einmal schwach zu, ihre Unterlippe zitterte. Dann drehte sie sich um. Ihre dünnen Beine trugen sie unsicher zurück zum Waldboden, wo sie in der Menge der Waldläufer verschwand. Die Bewegungen der Waldmenschen waren ruckartig und schnell, selbstsicher und gezielt. Meine Mutter sah darin aus wie eine Prinzessin auf dem Bauernmarkt.

Die WaldläuferWhere stories live. Discover now