Kapitel 36 [überarbeitet]

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Die Massen verteilten sich. Ich sah hinab auf meine Hände, an denen Blut klebte von einem Waldläufer, den ich nicht einmal persönlich getötet hatte. Ich erwartete ein Zittern, doch mein Körper war ruhig. Ich sah zu Gabriel. Auch ihm war keine Nervosität anzumerken, nichts deutete auf das hin, was vor Kurzem geschehen war.

„Meisterin." Flynn trat auf mich zu und riss mich aus meinen Gedanken.

„Es wird Zeit, dass Ihr etwas erfahrt." Überrascht sah ich den jungen Mann an, dann zu Gabriel und wieder zurück zu Flynn. Ich musste mit Gabriel reden, ich wollte unbedingt herausfinden was Tikra ihm erzählt hatte, was geschehen war in dem kurzen Moment, in dem ich ihre Worte nicht hatte hören können. Doch Gabriel schüttelte sachte den Kopf.

„Du solltest mit Flynn gehen. Wir können uns morgen treffen. Ich muss schlafen."

Es widerstrebte mir, doch ich stimmte ihm zu. Kurz darauf verschwand Gabriel humpelnd und auf seine Krücken gestützt in der Höhle, die zu unseren Betten führte. Er war also aus der Krankenhöhle entlassen worden.

Shay trat näher und nahm wieder die Position meiner persönlichen Kriegerin an. Ihr Blick war ernst. Noch immer waren viele Waldläufer um uns herum, doch ihre Augen waren nur auf Flynn gerichtet. Ich konnte ihre Emotionen nicht lesen, doch als Flynn den Blick meiner Freundin erwiderte, geschah etwas zwischen ihnen. Zwei Waldläufer, die sich ohne Worte verstanden.

Shay wusste, was nun geschehen würde. Dessen war ich mir sicherer als allem anderen. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Es schien, als würde eine Hiobsbotschaft nach der anderen eintreffen, seitdem ich hier war.

Flynn schritt auf mich zu, den alten Urwäldler hinter sich. Als ich dem Mann einen kurzen Blick zuwarf, senkte er ihn.

„Flynn...", begann ich, doch er unterbrach mich mit einer Handbewegung. Dann nickte er hinter mich.

„Dreh dich um", sagte er leise. Shay trat zur Seite. Mein Körper bewegte sich, ohne dass ich sagen konnte wie. Er tat es einfach, wie in einem Traum.

Hinter mir standen noch die meisten Waldläufer. Manche waren sich in die Arme gefallen, andere standen weinend einfach nur dort und schauten hinab auf den Ort, wo Tikra im Boden verschwunden war. Doch eine einzige Person scherte sich nicht darum, was um sie herum geschah. Ihr heller Blick war auf mich gerichtet, während lange braune Haare ordentlich gekämmt über ihren Rücken fielen und das hübsche Gesicht umrahmten.

„Mum", flüsterte ich leise. Blinzelte. Sah zu Shay. Sie senkte den Kopf. Wie sehr hoffte ich, dass sie mir einfach ins Gesicht blicken und nicken würde. Dass sie mir einfach zu verstehen gab, dass sie es tatsächlich war.

„Diane." Die Stimme meiner Mutter ließ mich zusammenzucken und zwang mich dazu, meine Aufmerksamkeit wieder auf sie zu richten.

„Nein", sagte ich leise, dann immer lauter. Verwirrt trat ich zurück, stolperte, fing mich auf. Flynns Hände griffen an meine Arme und er hielt mich. „Nein, nein, nein", flüsterte ich.

„Diane, ich bin so froh, dass du..."

„NEIN!" Meine laute Stimme erfüllte dir große Höhle. Meine Mutter, die einen Schritt nach vorne gemacht hatte, blieb angsterfüllt stehen.

„Was ist das hier?", rief ich und fuhr zu Flynn herum. „Erklär mir, was hier vor sich geht?!"

„Wir fanden sie mit einer Gruppe von unseren Waldläufern in einem ihrer Verstecke. Ihr war noch nichts geschehen. Wir befreiten sie und nahmen sie mit zu uns."

„Das war vor Monaten", flüsterte ich leise.

„Diane." Die Stimme meiner Mutter zitterte. Ich fuhr zu ihr herum, sah die Angst in ihren Augen. Sie musterte mich und blieb für einen Moment an meinen blutigen Händen hängen. Dann sah sie wieder zu mir auf und begann vorsichtig auf mich zuzulaufen.

Die WaldläuferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt