Kapitel 22 [überarbeitet]

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Vogelgezwitscher war das Einzige, was ich hörte. Noch nie war es mir so laut vorgekommen.

Meine Mum hatte eine Zeit gehabt, da war sie ganz begeistert von all den Vögeln gewesen. Da war ich neun. Sie hatte sich an einen sehr kurzen, kleinen Roman begeben, dessen Namen ich nun vergessen hatte. Vielleicht lag es auch nur daran, dass in meinem Kopf nichts Anderes als Leere war, dunkle, tiefe Leere, die nur ausgefüllt wurde von der Erinnerung an meine Mutter. Wie gerne würde ich meinen Kopf nun gegen ihre Schulter legen und einfach nur weinen. Ich würde ihr von all dem erzählen was hier geschehen war und sie um Rat fragen. Doch das war nicht möglich. Sie war weg, und ich war nicht in der Lage sie zu finden.

Damals war sie häufig mit uns Kindern in den Wald gegangen und hatte uns gezeigt, was sie bei einem ihrer langen morgendlichen Spaziergänge entdeckt hatte. Das Nest einer Amsel, den angepickten Baum eines Spechtes, den Punkt der Lichtung wo, wenn man lange genug wartete, Scharen von Spatzen angeflogen kamen um die Samenkörner zu fressen, die die Jäger den Wildschweinen ausgestreut hatten.

Das Lachen meiner Schwester klang in meinen Ohren, ihre Bewegungen schienen langsamer in meinem Kopf abzulaufen.

Weitere Hände schoben sich unter meinen Körper und hoben mich hoch. Ich zitterte unter der Bewegung, doch meine Augen blickten starr vor sich hin.

Als sei ich tot. Nicht in der Lage zu kontrollieren, was mit mir geschah.

Ich bemerkte die Unruhe um mich herum, doch konnte sie nicht verarbeiten. Verschwommene Gestalten liefen umher, riefen sich gegenseitig Sätze zu. Kannte ich die Wörter, die sie sich sagten? Kannte ich auch nur eine von den Personen, die um mich herumliefen? Bestimmt, denn jemand rief meinen Namen. Doch auch darauf konnte ich nicht reagieren. Alles war dumpf und blass, während meine Erinnerung immer leuchtender und lebendiger wurde. Ich wollte zurück dorthin, in den Wald zu meinen Geschwistern und meiner Mum, wollte ihre Hand in meiner spüren und das glückliche Leben eines Kindes leben. Doch ich war kein Kind mehr.

Oder?

Irgendwann erstarben die Geräusche. Dumpfe Schritte und Geflüster waren das Einzige, was blieb. Es war dunkler geworden und braun um mich herum. Die Hände lösten sich mit leisen Worten von meinem Körper und legten mich auf eine Matratze.

Ich wusste nicht, ob ich tatsächlich wiederkommen wollte. Die Dunkelheit, vor der ich so große Angst gehabt hatte, erschien mir jetzt wie ein willkommener Freund. Sie vertrieb zwar auch das Licht der Erinnerung, doch diese Tatsache war so viel unwichtiger gegenüber der, dass auch die Qualen der Gegenwart verschwinden würden.

Die Tatsache, dass ich meinen besten Freund gefunden hatte.

Tot.

Im Wald.

Und nur ich war schuld daran.

Ich schloss meine Augen und wollte sie nie wieder öffnen.

***

„Lasst mich mit ihr alleine."

Ich stöhnte. Die Diskussion neben mir erstarb. Vorsichtig blinzelte ich in hellen Sonnenschein.

„Was", stöhnte ich und hielt mir die Stirn. Es dauerte, bis die Erinnerung daran zurückkam, was gestern geschehen war. Zumindest vermutete ich, dass es gestern war.

„Sagt nichts, junge Leserin", hörte ich die einzige Frauenstimme, bei der es mir kalt den Rücken hinunterlief. Was tat sie hier? Ich wollte, dass sie verschwand.

„Ich wollte nicht mehr aufwachen", flüsterte ich. Jemand neben mir schluchzte auf. Laub raschelte, und Personen gingen fort von dem Ort, wo ich lag. Die eine hielt die andere, so als sei sie nicht in der Lage selbst zu laufen.

Die WaldläuferWhere stories live. Discover now