Die Email an den Schulpsychologen Herrn E. ...

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Nach den viel zu hohen Kalorienmengen ging es mir nicht nur körperlich schlecht, sondern besonders psychisch. Aber ich konnte mich einfach nicht ändern, hatte keine Beherrschung, kein Hunger- und Sättigungsgefühl mehr(auch schon in der Zeit des Hungerns), nur noch Appetit, und zwar Appetit auf kalorienreiches Essen und Süßes(es war in der Abiturzeit “normal“, dass ich am Tag manchmal bis zu zwei Tafeln Schokolade und zusätzlich noch Nutella und Gummibärchen gegessen habe usw.)

Meine Familie hat meine Zunahme natürlich schnell bemerkt... gewisse Kommentare zu meinem Essverhalten und besonders meiner Figur bekomme ich fast täglich zu hören. Dies begünstigt mein Essverhalten natürlich überhaupt nicht und ich fange noch mehr an aus Frust zu essen. 
Ich habe immernoch meist täglich Fressanfälle, in denen ich immernoch zu viele Kalorien zu mir nehme. Diese Fressanfälle sind zwar nicht mehr so stark wie während der Abiturzeit, aber immernoch stark genug, dass ich stetig zunehme... Aber ich bekomme es einfach nicht in den Griff, fühle mich schlecht in meinem Körper, weiß nicht, wie ich endlich mal aufhören kann zu essen.

Mittlerweile habe ich aber erkannt, dass ich Hilfe brauche. Ich war zweimal bei einer Beratungsstelle, allerdings konnte mir die Beraterin nicht so richtig weiterhelfen, aber ich habe auch aus eigenem Willen die Beratung nach zwei Sitzungen abgebrochen, weil damals ein bestimmtes “Zielgewicht“(ich wusste, dass dieses Gewicht weit im Untergewicht lag...), das ich bis zum Abiball am 18.06.16 erreichen wollte, für mich im Vordergrund stand. Allerdings habe ich dieses Zielgewicht nie erreicht. Stattdessen habe ich weiter zugenommen, bis zu diesen 12kg eben...
Die Beraterin hat mir damals sehr direkt gesagt, dass die Essstörung eine psychische Krankheit ist. Ich kann mir dass immernoch kaum eingestehen, dass ich “krank“ sein soll... es tut auch einfach zu sehr weh...

Da mich die Essstörung, auch wenn sie jetzt immer mehr Richtung Binge-Eating(obwohl ich mich NOCH im Normalgewicht befinde) geht, sehr belastet, habe ich mich dazu entschieden, dass ich eine Psychotherapie wegen der Essstörung anfangen möchte. Allerdings würde das nur gehen, wenn meine Eltern davon erfahren würden (aufgrund der privaten Krankenversicherung)
Da ich das aber immernoch nicht will, kann ich momentan noch keine Psychotherapie anfangen, ohne dass meine Eltern davon wissen würden...

Ab 1.9. werde ich allerdings einen Bundesfreiwilligendienst(BFD) in einem 400km entfernten machen. Dafür muss ich mich gesetzlich versichern, sodass ich endlich eine Therapie anfangen kann. Am 13.9. habe ich meine erste probatorische Sitzung bei einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin (Verhaltenstherapie). Die vier weiteren probatorischen Sitzungen werden ca. alle zwei Wochen stattfinden, bis die Wartezeit überbrückt ist und dann die “richtige“ Therapie wöchentlich anfangen kann...
Ich hoffe, ich kann dann endlich in fast drei Monaten meine Essstörung angehen, auch wenn ich dafür nur knapp ein Jahr Zeit habe...

Ich weiß nicht, ob Sie das alles, was ich hier aufgeschrieben habe, interessiert. Auch wenn Sie für mich nicht mehr als Schulpsychologe zuständig sind, war es mir trotzdem ein wichtiges Anliegen gewesen, Ihnen diese Email zu schreiben. Damals, als wir das Gespräch hatten und auch jetzt noch, habe ich eine Essstörung, auch wenn es jetzt leider eine andere Form ist. 
Ich finde es wichtig zu erkennen, dass man nicht jede Essstörung an einem Gewicht erkennen kann. Klar, viele Arten, besonders die klassische Magersucht kann man meist an einem Gewicht bzw. an dem starken Gewichtsverlust erkennen. Aber es gibt viele andere Arten von Essstörungen, die “unentdeckt“ bleiben oder auch Mischformen. Besonders bei Bulimikern befindet sich das Gewicht oft im Normalbereich und die Essstörung ist am Gewicht eigentlich kaum erkennbar.
Denn gerade das Gefühl zum Körper und dessen Wahrnehmung, kann oft zumindest eine Tendenz zu Essstörungen aufzeigen. Aber natürlich ist das veränderte Essverhalten ein ausschlaggebender Faktor einer Essstörung. Allerdings ist das Hungern, wie ich aus eigener Erfahrung ja selbst weiß, leicht zu verheimlichen. Von daher ist es sehr schwierig für die Familie oder Außenstehende, die Anzeichen eine Essstörung zu erkennen und diese ernst zu nehmen.
Bei mir wäre es damals aus heutiger Sicht wahrscheinlich wichtig gewesen, dass man mit mir mehr über mein Körpergefühl und auch besonders die möglichen Gründe für das veränderte Essverhalten gesprochen hätte. Ich habe nämlich erkannt, dass nicht, dass Essen bzw. Nicht-Essen, das Problem ist. Das eigentlich Problem ist die Störung der Emotionsregulation, beispielsweise aufgrund von Konflikten in der Familie oder (früheren) Erfahrungen, die man vielleicht nicht verarbeiten konnte etc.. Das Essen bzw. Nicht-Essen ist eigentlich nur ein Symptom, das für den Betroffenen als “Flucht“ vor den eigentlichen Problemen erlebt wird, auch wenn sich durch das veränderte Essverhalten, die eigentlichen Probleme nicht lösen...

Ich hoffe, dass Sie meine Gedanken zu unserem Gespräch vom 8.10.15 verstehen können. Das alles hat überhaupt nichts mit Ihnen als Mensch zu tun, denn sie sind mir wirklich sympathisch gewesen! Wie gesagt, ich fände es schön, wenn Sie meine Worte als konstruktive “Kritik“/Verbesserungsvorschläge annehmen könnten und es ist wirklich alles andere als böse gemeint!

Ich wünsche Ihnen alle Gute für Ihre Zukunft!

LG
Lissi

PS: Ich würde mich trotzdem über eine Antwort freuen! ;)“

Essstörung - Der Moment, als ich gesagt bekam, ich sei psychisch krank...Where stories live. Discover now