Kapitel 8 (Teil 1)

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Gestern nachdem Cam mich zuhause abgesetzt hat, bin ich gleich in mein Zimmer und habe mich den restlichen Abend nicht mehr nach unten getraut. Ich wollte einfach nicht vor meine Eltern treten und ihnen ihre neugierigen Fragen beantworten. Doch jetzt klopft es an der Tür, obwohl ich nicht herein sage, öffnet mein Dad die Tür ein wenig und steckt den Kopf in mein Zimmer.

"Alles okay, Schatz?", will er leicht besorgt wissen.

Ich lasse mein Notizbuch unter meinem Kissen verschwinden und drehe mich zu ihm um. "Klar", lüge ich mit einem aufgezwungen lächeln im Gesicht.

"Wir haben dich schon seit Stunden nicht mehr gesehen. Ist was mit diesem Jungen passiert?", hakt mein Dad weiter nach und setzt sich neben mich auf mein Bett.

Ich frage mich, ob der fürsorgliche Vater wissen möchte, wie es mir geht oder der Kinderpsychologe. Zumindest sieht er mit dem alten Pullover und der verwaschen Jeans mehr nach meinem Vater aus, als nach dem Psychologen. Sicher bin ich mir trotzdem nicht. Außerdem wer weiß, ob er keine Probleme nicht doch in einem seiner Bücher erwähnt. Er hat uns allen zwar hoch und heilig versprrochen, dass so was nie vorkommen wird, aber man weiß ja nie.

"Ich will nicht drüber reden", weiche ich aus und sehe meinen Vater genauer an.

Seine Haare sind immer noch schwarz, hier und da sind ein paar graue Haare, die aber fast gar nicht auffallen. Heute hat er sich nicht rasiert und ein paar Bartstoppeln stehen an seinem Kinn und Hals hervor. Ich habe Bilder von meinem Dad von früher gesehen, als er so alt war wie Jonas, hätten die beiden Zwillinge sein können. Ich habe keine Gemeinsamkeiten mit meinem Vater, da wären bloß die braune Augen, die ich von ihm geerbt habe. Meiner Mutter sehe ich auch nicht sonderlich ähnlich. Vor zwei Jahren hat Miri mich ganz verrückt gemacht mit der Idee, dass ich ja adoptiert sein könnte. Daraufhin haben meine Eltern mir meine Geburtsurkunde und sämtliche Fotos, die direkt nach meiner Geburt aufgenommen wurden, gezeigt und somit bewiesen, dass ich ihre Tochter sein muss. Ihr eigen Fleisch und Blut. Aber das war nicht das erste mal, dass Miri mich total verrückt gemacht hat. Als wir acht Jahre alt waren hat sie mir immer erzählt, dass ein Mann unter meinem Bett wohnen würde, der nur noch eine Gesichtshälfte hat, weil er sich die andere selbst entfernt hätte, wie weiß ich nicht mehr, aber ich hatte jeden Abend solche Angst, dass meine eltern unter mein Bett sehen mussten und mir versprechen mussten, das da kein Mann liegt, der im schlaf über mich herfallen würde.

Jetzt mit 16 Jahren hat Miri es geschafft mich mit Paradise verrückt zu machen. Besonders einer hat mich mit voller Wucht getroffen.

"Na schön, aber komm zu mir, wenn was ist", mein Vater stößt mich leicht mit der Schulter an, dann lässt er mich in Ruhe und geht wieder nach unten. Mit ihm habe ich mich immer schon besser verstanden, als mit meiner Mutter. Was wahrscheinlich daran liegt, dass meine Mom seit ich denken kann versucht ihre wünsche in mich zu projizieren.

Ich ziehe das Notizbuch wieder unter meinem Kissen hervor und lasse den Stift über der Seite schweben. Schon seit zwei Stunden versuche ich in Worte zu fassen, was mit Cam passiert ist, aber es geht nicht. Früher konnte ich immer alles los werden, wenn ich es aufgeschrieben habe. Ich habe immer die richtigen Worte gefunden, um meinen Frust abzubauen oder meine Trauer los zu werden, aber es geht nicht. Ich kann nicht aufschreiben, was ich gerade fühle oder wie ich mich vor wenigen Stunden gefühlt habe. Es ist zum verzweifeln. Noch nie ging es mir so. Ich konnte immer alles aufschreiben. Selbst nach dem meine Oma vor einem Jahr gestorben ist oder nach einem heftigen Streit mit Miri habe ich Worte gefunden, um mich danach besser zu fühlen, aber jetzt finde ich keine Worte. Nicht mal ein einziges. Die leere Seite grinst mich förmlich mit einer Fratze an und wartet darauf, dass ich aufgebe, dass ich in Tränen ausbrechen und das Notizbuch an die Wand werfe, aber so weit will ich es nicht kommen lassen.

Shy Star Where stories live. Discover now