43. "Wie geht es ihr?"

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Anscheinend war ich dann auch irgendwann eingeschlafen, denn als ich die Augen öffnete, schmerzte mein Nacken.
Die Frau von gestern war weg.
Will war auch nicht mehr da, der Rest war noch am Schlafen.

Gerade als ich mich fragte, wo Will steckte, kam er rein.
"Hey", sagte er und balancierte zwei  volle Plastikbecher in den Händen.

Einen davon drückte er mir in die Hand. "Ist Kaffee. Trink' einfach."
Ich nickte ihm dankbar zu und trank einen Schluck.

Es schmeckte scheußlich, doch der Kaffee erfüllte seinen Zweck, denn ich würde tatsächlich etwas wacher.

"Wie geht's dir?", fragte Will und legte eine Hand auf meine, die still auf der Lehne des Stuhls lag.

"Naja, den Umständen entsprechend ganz gut", seufzte ich. "Und dir?"

Er nickte. "Die Ärzte meinten, dass Bellas Mutter eingetroffen ist, während wir geschlafen haben. Sie müsse entscheiden, ob wir zu ihr dürfen."

"Heißt dass, das sie wach ist?", fragte ich und war plötzlich total aufgeregt. Und das sicher nicht nur wegen des Koffeins, der durch mein Blut floss.

Will schüttelte den Kopf. "Das einzige, was sie mir gesagt haben, war, dass sie noch nicht wach ist."

Es tat weh, dass zu hören.
Doch ich musste bei dem Gedanken bleiben, dass sie es schaffte.
Sie musste es einfach schaffen.

*

Bellas Mutter war groß und schlank. Ihre langen und rot lackierten Nägel ruhten auf ihrer schwarzen Handtasche, die sich in ihren Schoß gelegt hatte.
Sie saß vor uns auf einem grünen Stuhl, den sie verschoben hatte, um uns genau gegenüber zu sitzen.

Ihre aschblonden Haare, die Anzeichen von Grau aufwiesen, hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt und ihr Gesicht ähnelte Bellas.
Doch Bellas Gesicht war viel kindlicher und runder, als das kantige und eingefallene Gesicht ihrer Mutter.
Die Frau vor uns trug einen grauen Rock und eine graue Bluse. Ihre schwarzen, hohen Schuhe glänzten im weissgelben Licht der Lampe, die über uns hing.

"Guten Tag", sagte sie und ihre Stimme wirkte wie die, einer entschlossenen, selbstsicheren Frau.

"Schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Nick", versuchte es Nick und hielt ihr eine Hand hin, die sie nur verächtlich ansah.

"Könntet ihr mir vielleicht erklären, wie das hier alles passiert ist?"
Ihre kalte Stimme durchschnitt die stickige Luft zwischen uns und ich zuckte leicht zusammen.

"Wir haben das nie gewollt. Dass ihr etwas zustößt", erwiderte Lola und der Rest von uns blieb stumm.

Sie strich sich eine dünne Haarsträhne zurück hinter ihr Ohr, an dem ein silberner Ohrring glänzte.
"Zustößt? Annabella ist krank."

"Wir hätten besser auf sie aufpassen sollen, es tut uns unglaublich leid, Mrs. Walter", sagte Lola wieder.

"Nein, ihr hättet erst gar nicht aus der verdammten Klinik abhauen sollen!", zischte sie. "Dann wäre das alles nicht passiert."

Eine Weile blieb es wieder still. Dann seufzte sie laut aus.

"Ihr seid also die Freunde meiner Tochter?", in ihrer Stimme schwang kein Spott mit, eher Verunsicherung, was mich nach ihrem kalten Auftreten total wunderte.

Wir alle nickten. "Ja, das sind wir."

"Wenn das so ist, könnt ihr sie natürlich sehen."

*

Sie sah aus wie ein Geist, so blass war ihre Haut.
Ihre schmalen Arme lagen auf der Decke, sonst war sie bis zum Hals zugedeckt.
Ihre blonden Locken umrahmten ihr Gesicht und ihr Kopf lag auf einem blauen Kissen.

Sie hatte die Augen geschlossen und überall waren Geräte, die piepten und Dinge taten, die ich nicht mal ansatzweise verstand.

Vorsichtig setzte ich mich auf einen Stuhl, der neben dem Bett stand und griff durch all die Kabel nach Bellas eiskalter Hand.
Ihr Nagellack war abgekratzt, doch er schimmerte noch leicht grünlich.
Die dünnen Finger hingen schlaff herunter und mir kamen die Tränen, als ich daran dachte, dass ich nicht auf sie aufgepasst hatte.

Ich hatte nicht auf sie aufgepasst und jetzt lag sie ihr, umgeben von Maschinen.
Das hatte sie nicht verdient, dachte ich und schließlich spürte ich die salzigen Tränen, die meine Wangen hinabliefen.

Mrs. Walter saß auf der anderen Seite des Betts und fuhr Bella leicht durch die Locken.

"Ich muss mich entschuldigen", sagte sie und legte ihre Hand zurück in ihren Schoß.
"Dass ich vorhin so unhöflich war, tut mir leid. Ich meine, ich hätte es ja wissen müssen, dass Bella es in der Klinik nicht aushält.
Ich war krank vor Sorge, als ich gehört habe, dass sie weg war und als ich euch dann gesehen habe, war ich irgendwie wütend. Aber ich sollte auf mich wütend sein. Schließlich hab ich sie in diese Klinik gegeben."

Ihr Blick ruhte auf ihrer Tochter, deren Brust sich unter der dicken Decke hob und senkte.

Ein Arzt betrat den Raum. Er hatte einen Glatze und trug eine eckige, dunkelblaue Brille, die ihm die Nase herunterrutschte.

Er räusperte sich. "Guten Tag, ich bin Doktor Petersen und bin zuständig für Ihre Tochter."
Sein Blick fiel fragend auf uns.

"Das ist okay. Sie alle sind gute Freunde meiner Tochter", erwiderte Mrs. Walter auf seinen fragenden Blick.
Daraufhin nickte er, räusperte sich nochmal und holte ein Klemmbrett hervor.

Mit einem Kuli las er Zahlen von den Geräten ab, bis Lola ihn dabei störte.

"Wie geht es ihr?", sprach sie die Frage aus, die uns allen im Kopf herum schwebte.

Der Doktor schaute uns ausdruckslos durch seine kleine Brille an und legte das Klemmbrett ans Ende des Bettes.

"Momentan ist sie außer Lebensgefahr. Aber wir müssen noch einige Tests machen. Sie ist ziemlich erschöpft. Es ist besser, wenn sie noch etwas schläft."

Ich atmete hörbar aus und nickte. "Danke."

Doktor Peterson lächelte leicht und nahm das Klemmbrett wieder an sich. "Ich muss dann auch wieder los. Eine Schwester wird alle halbe Stunde vorbei schauen und ihre Werte überprüfen. Wenn etwas seien sollte, drücken Sie bitte den roten Knopf."
Er deutete auf einen Knopf schräg über Bellas Bett und verschwand.

Das letzte, was ich von ihm sah, war sein weißer Kittel und seine Sportschuhe, die kurz quietschten, als er sich in Bewegung setzte.

Ich hatte Krankenhäuser noch nie gemocht. Es roch förmlich nach Tod und diese Entscheidungen, die in Krankenhäusern getroffen wurden, machten mir Angst.
Sollte man die Geräte abschalten?
Sollte man jetzt operieren?
War es nötig ein Transplantat zu finden?

All diese Dinge, die man als Arzt beachten musste, machten mir Angst. Denn es ging bei den meisten ja wirklich um Leben und Tod.

Und als ich sah, wie Bella so vor mir lag und schlief, musste ich seufzen.
Auch wenn sie nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, was echt ein Schritt zur Besserung war,  hatte ich noch Angst um sie.

Bella wirkte friedlich.
Doch irgendetwas sagte mir, dass sie noch lange nicht außer Gefahr war.
Irgendeine Angst in mir hielt mich nervös und ich konnte kaum noch ruhig sitzen.

Sie ist noch nicht komplett außer Gefahr, so lange sie nicht wach ist und so lange noch nicht alle Tests gemacht wurden, dachte ich und fuhr mit dem Daumen und über ihren Handrücken.

Und dieses unsichere, ängstliche Gefühl in mir hatte Recht behalten.

Freaks [wird überarbeitet]Where stories live. Discover now