19. Ein Funken Hoffnung

1.2K 126 5
                                    

Am Nachmittag trafen wir uns alle draußen, weil es schön warm war.

Das erste Mal seit langem trug ich sogar wieder ein T-Shirt.
Ein paar meiner Schnitte waren noch so frisch und noch nicht verheilt, wie die anderen, dass ich mich entschied, einen Verband anzulegen.

Dann stolperte ich die Treppe runter und traf auf dem Weg schon Bella.

"Ally! Was gibt's Neues?"

Gute Frage. Es gab nichts Neues, abgesehen davon, dass meine Mutter morgen zu Besuch kommen würde. Bei der Vorstellung meine Mutter wiederzusehen, hatte ich gemischte Gefühle.
Einerseits war sie meine Mutter und ich liebte sie über alles, andererseits hatte sie nicht mal versucht mir zu helfen, sie hatte mich einfach weggegeben.
Obwohl das im Nachhinein gar nicht so schlecht war, denn jetzt hatte ich wirklich Freunde gefunden - Trotzdem, mir ging es darum, dass sie nicht mal selbst Initiative ergriffen hatte und mit mir richtig darüber geredet hatte, denn sie hatte sich vor dem ganzen Thema immer gedrückt.
Ja, ich hatte gemischte Gefühle, doch ich freute mich eigentlich, schließlich hatte ich sie echt lange nicht gesehen.
Außerdem würde ich mein Handy bekommen und ein paar andere Dinge von zu Hause.

"Nicht viel. Bei dir?"

"Ich bin voll beschäftigt mit meinem Ernährungsplan und so."

Ich lächelte. "Du weißt gar nicht, wie es mich beruhigt, dass es dir besser geht."

Bella boxte mich leicht auf eine lustige, freundschaftliche Weise und wir waren schon unten an der Meldestelle und traten raus auf die Wiese.
Lola und Will waren schon von weitem zu sehen.

Als wir näher kamen, konnte ich Will dann ausgiebig mustern.
Er trug eine dunkle Jeans, kaputte Schuhe und einen dunkelblauen Pulli, der zu seinen Haaren passte.
Es war echt sonnig und warm und meine Laune vermieste sich, als mir klar wurde, warum Will einen dicken Pulli trug, dabei war es mir doch klar gewesen.
Seine bläulichen Haare waren wild durcheinander und standen in all mögliche Richtungen ab.
Die Augenringe waren dunkel und sein Gesicht wirkte blass und fahl, obwohl die Sonne schien.

Als er Bella und mich sah, zuckten seine Mundwinkel kurz nach oben. Lola umarmte uns kurz und dann kam auch schon Nick.
"Na, ihr Freaks", grinste er.

Wir setzten uns auf die Wiese und ich musste die ganze Zeit zu Will schauen, der mir gegenüber saß.

"Wisst ihr was? Ich krieg eine verdammte Kamera!", strahlte Lola und man sah ihr an, wie viel ihr das bedeutete und wie sehr sie sich freute.

"Das ist echt cool. Wir müssen dann unbedingt ganz viele Bilder machen!", kicherte Bella.

Ich schaute zu Will rüber und unsere Blicke trafen sich.

"Bilder? Damit sie uns in zehn Jahren zeigen, wie's nie wieder sein wird?"
Wills Worte führten zu einer erdrückenden Stille.

Keiner sagte mehr etwas, alle senkten den Blick, nur ich schaute weiterhin zu Will.

"Damit man sich erinnern kann, vielleicht."
Meine Antwort war so leise und eigentlich hatte ich das gar nicht sagen wollen, doch nun starrte Will mich mit seinen dunklen Augen an und ich begann wieder, mich in ihnen zu verlieren.

"Ich will mich nicht erinnern. Ich will nur vergessen."
Mit diesen Worten stand Will auf und ging.
Keiner unternahm etwas, alle blieben einfach nur auf der Wiese sitzen.
Seufzend stand ich auf und wollte ihm hinterher, doch jemand hielt meine Hand fest.

"Lass ihn jetzt in Ruhe, er ist durcheinander."
Mit der anderen Hand fuhr ich mir durch meine braunen Haare und schaute runter zu Bella.
"Deswegen muss ich ihm jetzt helfen."

Will hatte zwar einen Vorsprung, doch ich holte ihn relativ schnell ein. Wir waren bereits schon beim Saal der Engel, als ich ihn endlich stoppen konnte.

"Will!", sagte ich laut und griff nach seinem Handgelenk.

Er versuchte, sich mir zu entreißen, doch mein Griff wurde nur noch fester.
"Halt mal kurz an!"

Sein eiskalter Blick traf mich hart, härter, als ich dachte.
"Bitte, bleib kurz stehen."

"Was willst du, Liz?!"

"Reden, Will. Was ist los?"

"Nicht Will! NICHT WILL!", schrie er und entriss sich meinem Griff. Trotzdem blieb er vor mir stehen und ballte seine Hände zu Fäusten.
Er war wirklich wütend, verdammt.

"Heute bin ich Nico! Und außerdem will ich verdammt nochmal nicht reden, okay?! Versteh's doch endlich, Allison! Ich will nicht reden!"
Er brüllte mich an und wenn ich brüllen sagte, dann meinte ich das auch.
Er schrie und schrie und hörte gar nicht auf.
Außerdem hatte er mich Allison genannt und irgendwie war das seltsam, dass er mich so nannte.

Es tat so unfassbar weh, von ihm angeschrien zu werden. Ich biss mir auf die Lippe und schaute vorsichtig hoch zu ihm.
Nico W. schrie lauter Schimpfworte in die Luft und raufte sich die Haare.

Gerade wollte ich ansetzen und ihn beruhigen, als er plötzlich von selbst ruhiger wurde.
"Geh einfach, Liz. Bitte geh."

"Nein, verdammt!", erwiderte ich nur laut.

"GEH!", krächzte er mit letzter Kraft. Dann brach er zusammen und fiel auf die Knie.
Er begann, zu weinen und hielt sich schützend die Hände vors Gesicht.

Ich kniete mich ihm gegenüber und löste vorsichtig seine Hände von seinem Gesicht.
Die Tränen bahnten sich den Weg über seine Wangen.

"Ich bin hier, okay? Und ich bleibe hier."

"Das haben sie alle gesagt, Liz."
Ich verstand, was er meinte.

"Ich bin nicht so wie die. Wir sind alle nicht so wie die. Wir sind anders, wir sind Freaks. Aber das ist okay."
Ich lächelte ihm zu.
Er hörte auf, zu zittern und seine Tränen trockneten schon.

"Wir sind also Freaks, ja?"
Seine Stimme klang wieder normal, so tief und rau wie immer.

Ich lachte kurz auf. "Ja, Nico, das sind wir wohl."
Er lächelte flüchtig, als ich ihn Nico nannte, dann stand er auf und zog mich mit hoch.
Gerade wollte ich ihm noch aufbauende Worte zusprechen, da drückte er mich fest an sich.

Seine kräftigen Arme legten sich um meinen Rücken und mein Gesicht landete an seiner Schulter.
Ich roch sein leichtes Parfüm und musste grinsen. Ich liebte seinen Geruch.
Sein Pulli war schön weich und warm und ich hätte die ganze Zeit so in seinen Armen liegen können, doch eine Stimme in meinem Kopf meldete sich laut und deutlich.

Du darfst ihn nicht so nah an dich ranlassen, wenn du das tust, dann verliebst du dich nur noch mehr in ihn.
Er wird dich nie lieben, du bist eine Versagerin, also hör auf, dich ihm noch mehr hinzugeben. Das wird dir nur weh tun, das weißt du ganz genau!

Ja, da war sie wieder. Meine Depression. Doch hatte sich nicht recht?
Ja, das hatte sie, denn ich wusste in diesem Moment genau, dass ich ihn liebte.
Ich liebte William Anderson.
Und wenn ich so in seinen Armen lag und sein Parfüm roch und seinen Herzschlag hörte, dann wusste ich, dass ich ihm von Tag zu Tag mehr verfallen würde.
Mit jedem Wort, das er sagte, faszinierte er mich mehr und mehr.

Verdammt, ich liebte ihn und ich wusste, dass aus uns nichts werden würde, deswegen löste ich mich von ihm und lächelte müde.

In seinen Augen lag so viel Trauer, doch ich sah den kleinen Funken Hoffnung hinter all den Schatten.

Freaks [wird überarbeitet]Where stories live. Discover now