35. Tag Vier - 2/2

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"Was soll denn heute sein?", hakte ich nach.

"Peter...Er hat mir noch eine Nachricht zukommen lassen, nach dem Treffen. Er meinte, dass er am 9. August weg ist."

Ich erinnerte mich an Peter, Wills älterer Bruder, der zur Armee gehen wollte, so wie ihr Vater.
Ich schluckte. Will liefen die Tränen über die Wangen und ich konnte nicht anders, als aufzustehen und ihn zu umarmen.

Egal, was da zwischen uns schief lief. Ich musste das tun.
Ich konnte ihn jetzt nicht alleine damit lassen.
Also legte ich meine Arme behutsam um ihn, während ich mich neben ihn setzte.

Er erwiderte die Umarmung und vergrub sein Gesicht in meinem Pulli, der etwas feucht wurde von seinen Tränen.
Ich hörte, wie die Hühner gackerten und wie Will leise schluchzte.

"Er ist weg, Liz. Und das letzte, was ich zu ihm gesagt habe, ist, dass er sich verpissen soll. Das letzte, an was er sich erinnern wird, wenn er an mich denkt, ist, dass ich sauer auf ihn war. Das will ich nicht. Ich werde mir das nie verzeihen, Liz. Nie", murmelte er und mir lief ein Schauer über den Rücken.
Ich kannte das Gefühl. Ich hatte auch mit meinem Vater gestritten, kurz bevor er gestorben war.

Es war mit Abstand eines der schrecklichen Gefühle.
In einem Streit auseinanderzugehen und sich dann nicht mehr entschuldigen zu können, weil der andere weg ist, war einfach nur schrecklich. Man fühlte sich schuldig für sein ganzes Leben.
Ich wusste, was er meinte.

Mir stiegen die Tränen in die Augen, weil ich nicht wollte, das Will sich auch so fühlen musste.
Das wünschte man keinem. Diese riesige Last auf den Schultern zu tragen und jeden Morgen aufstehen mit dem Gedanken daran, Schuld zu sein. Es verfolgt einen, diese Schuldgefühle.

"Er ist ein Anderson. Er wird das schon irgendwie packen, nicht wahr?", erwiderte ich leise und er löste sich von mir und schaute mich mit seinen verweinten Augen an.

"Ich hab' dir doch mal gesagt, dass Andersons vielleicht stark sind, aber wir sind nicht unbedingt die Stärksten, wenn's drauf ankommt. Ich kann mir diese Hoffnung nicht leisten, Liz.
Das würde mich nur noch mehr zerstören."

Ich neigte meinen Kopf etwas zur Seite und seufzte. "Aber ich finde es nicht gut, ihn jetzt schon loszulassen. Er ist noch nicht tot."
Ich sprach das aus, was mir durch den Kopf ging.
Peter war noch nicht tot und das man alle Hoffnung aufgab, verstand ich nicht so ganz.
Klar, war es gefährlich und lebensbedrohend für Peter, aber mir kam es so vor, als wäre Peter für Will schon tot. Als wäre er schon gefallen. Doch das war er nicht.

Will nickte nur leicht und rieb sich die Augen.

"Tut mir leid", sagte er und seine raue, tiefe Stimme kehrte zurück.

Fragend schaute ich ihn an.
"Tut mir leid, dass ich so war, wie ich eben war", fügte er hinzu und fuhr sich durch die Haare.

Ich schüttelte nur den Kopf. "Entschuldige dich nicht dafür, wer du bist, Will."

"Nicht Will. Quentin."

"Wie kommst du auf Quentin?", fragte ich grinsend.

Er zuckte nur mit den Schultern. "Eigentlich habe ich immer meine Gründe. Aber in letzter Zeit nehm' ich die, die mir gefallen."

Nickend lächelte ich und Stille überkam uns.
Keiner sagte etwas. Wir saßen neben einander und schauten uns einfach nur an.
Ich verlor mich wie schon so oft in seinen wunderschönen Augen und ich hatte nicht vor, wegzuschauen.
Diesmal schaute ich hin, ich schaute ihn an, bis er wegschauen würde.
Doch er hatte anscheinend auch nicht vor, wegzuschauen. Er saß einfach da und starrte mich an.

Es war ein seltsam beruhigendes Gefühl, dass alles so still war. Doch, dass er mich so anstarrte, machte mich fast wahnsinnig.

Langsam vergaß ich, wo ich war und was um mich herum passierte.
Es gab nur noch ihn und ich hatte das Gefühl, mein Herz schlagen zu hören und ich hatte das Gefühl, dass wir ewig so verweilen könnten.

Wir könnten einfach hier sitzen bleiben und uns einfach Ewigkeiten lang anstarren. Es würde nicht langweilig werden, so komisch es klingt, es stimmte, dachte ich.

Mit einem Krachen flog die Tür auf.
"Jemand da?", hörte ich eine bekannte Stimme.
Doch noch schwebte ich in meiner eigenen Welt, in der Will und ich uns Jahre gegenüber sitzen würden und uns anstarren würden.

"Liz", hauchte Will und riss mich aus meinen Gedanken.

"Hey, ihr!", rief Nick und kam in die Küche zu uns.
Schnell drehte ich mich um und fing einen fragenden Blick von Nick ein.

"Hallo", sagte Will und stand auf, um Bella beim Einräumen der Einkäufe zu helfen.
Ich saß immer noch wie angewurzelt da und tauschte seltsam verwirrte Blicke mit Nick aus, der sich höchst wahrscheinlich fragte, was zwischen Will und mir wieder passiert war.

"Ähm. Allison, willst du mir helfen, die Scheune ein bisschen aufzuräumen? Also, dass wir unsere Sachen mal wieder ordnen?", fragte Nick und zeigte nach draußen zur Scheune.
Ich nickte, weil ich verstand, was er eigentlich wollte und stand auf und wir gingen wortlos hinüber.

Erst als wir in der Scheune angekommen waren, brach Nick die Stille.
"Allison, du willst mir doch nicht ernsthaft verkaufen, dass da nichts zwischen euch ist?"

"Da ist nichts", murmelte ich.

"Ich sehe da was anderes", erwiderte er und legte seinen Kopf schief.
"Was ist?"

Und dann platzte es aus mir heraus, wie Lava aus einem Vulkan.

"Ich liebe ihn, okay?! Ich bin in ihn verliebt, ja!"

Nicks Ausdruck veränderte sich kein Stück. "Und das Problem ist...?"

"Dass er mich nicht liebt. Aus uns wird nichts. Es gibt kein uns. Da ist nichts, versteh es doch, Nick!", antwortete ich und gestikulierte wild mit den Händen in der Luft herum.

"Aber Freunde sehen sich nicht so an, wie ihr es tut, Allison."

Der Satz blieb in meinem Kopf hängen und lief in Dauerschleife.
Ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken.

Freaks [wird überarbeitet]Where stories live. Discover now