27. Erinnerungen

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Am nächsten Morgen tat mein Rücken höllisch weh und mein Kopf brummte.

Seufzend stand ich auf und entdeckte Will, der bereits seinen Rucksack hinten aufs Fahrrad schnallte.

"Hey", sagte ich leise und ging zu ihm.

Er drehte sich um und lächelte. "Alles klar?"

"Ja, bei dir?"

Er nickte. "Weckst du die anderen? Wir müssen bald los und Nick muss noch herausfinden in welche Richtung es geht."

Nachdem Bella, Lola und Nick auch wach waren, besprachen wir die Lage.

"Ich gehe davon aus, dass wir bereits als vermisst gelten. Wenn wir Glück haben, noch nicht allzu lange. Denn ab einer bestimmten Zeit wird auch die Polizei nach uns suchen."
Nick räusperte sich. "Folgendes: Wir wollen ja zum See und ich würde es echt praktisch finden, wenn wir uns eine Landkarte irgendwo besorgen.
Handys haben wir ja ausgeschaltet."

Er hatte Recht.
Ich wusste zwar ungefähr in welche Richtung es ging, aber das war einfach zu unsicher.
Am Ende würden wir uns verlaufen und komplett die Orientierung verlieren.
Also, lieber eine Landkarte kaufen, dachte ich.

"Das heißt, wir müssen nochmal in die Innenstadt zurück?", fragte Lola.
Nick nickte. "Außer es gibt einen Typen, der um acht Uhr morgens durch den Wald läuft und Landkarten an Jugendliche mit Fahrrädern verkauft, die offensichtlich nicht im Wald sein sollten."

Wir lachten los und machten uns auf den Weg zurück in die Stadt, nachdem wir schnell etwas kleines gegessen hatten.

Ich hatte irgendwie wieder Panik, weil mir der Gedanke kam, dass uns jemand erkennen könnte.

Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum, bis ich den Eisengeschmack in meinem Mund spürte.

"Du blutest", stellte Will fest, der neben mir lief.

"Hm. Ich bin total nervös", murmelte ich und wischte mir einmal über die Lippe.
Doch der Eisengeschmack von Blut blieb in meinem Mund und mir wurde ganz schlecht.

"Alles ist okay", sagte Will und sein Handrücken streifte meinen, was mich gleichzeitig noch nervöser machte und mich doch beruhigte.

Schnell entdeckten wir einen Laden, in der Seitengasse zum Café, der irgendwie ein Mix aus Souvenirladen und Reisebüro war.
Nick kaufte eine riesige Landkarte, die sogar noch die Straße drauf hatte, wo Klinik Woods war. Außerdem war der See auch zu sehen, also perfekt für uns.

Der Rückweg zum Wald verlief still, bis Lola seufzte und wir alle taten es ihr gleich.
Ein Chor aus Seufzern entstand und ich hatte das Gefühl, wir würden nicht aufhören.

Als wir aber an den Fahrrädern ankamen, die wir im Wald gelassen hatten, zur Sicherheit, verstummten wir wieder.
Während ich mich auf meinen Sattel schwang, drehte Nick die Karte einmal komplett und runzelte die Stirn.
Will hantierte an seinem Fahrrad herum und Bella und Lola waren bereits am Waldrand und warteten auf uns.

"Ah. Jetzt hab ich die Karte endlich verstanden!", lachte Nick zufrieden und setzte sich auf sein rotes Fahrrad.

"Also, dann lass uns los. Nick? Fahr am besten vor", hörte ich Will's raue Stimme neben mir.

Und so fuhr Nick ganz vorne, dahinter Lolas rote Mähne und Bellas blonde Locken.
Will und ich bildeten das Ende der Kette.

Der Wind brauste durch meine Haare und das Rauschen der Bäume beruhigte mich.
Ich atmete die frische Luft ein und trat fester in die Pedale, um aufzuholen, denn der Abstand zwischen uns und den anderen wurde immer größer.
Will tat es mir gleich und so blieben wir weiterhin nebeneinander, was auf dem großen Fahrradweg sogar gut möglich war.

"Liz?", fragte Will.
Fragend schaute ich schnell zu ihm rüber, richtete meinen Blick dann aber wieder auf den grauen Asphalt vor uns.

"Glaubst du, sie vermissen uns wirklich?", hörte ich ihn sagen.
Seine tiefe, raue Stimme traf mich mitten ins Herz und seine Worte brachten mich total aus dem Gleichgewicht.

Ich dachte an meine Mutter.
An meinen Vater.
An all die Menschen, die ich enttäuscht hatte und an all die Menschen, die mir je etwas bedeutet hatten.
Dann dachte ich an Klinik Woods und an all die Jugendlichen mit den leeren Augen, den verlassenen Herzen und dem müden Lächeln im Gesicht.
Ich dachte an all die Fehler und an all die Entscheidungen, die ich getroffen hatte.
Würden sie mich vermissen?
Nein, würden sie nicht, dachte ich.

"Ich glaube schon", sagte ich aber, um Will aufzuheitern.

"Ich glaube nicht", sagte er und er lachte leise.

"Ich glaub's auch nicht, um ehrlich zu sein", korrigierte ich mich und seufzte.

Ein Eichhörnchen kreuzte den Weg und verschwand im Gebüsch.
Ich grinste leicht.
Früher hatte es immer ein Eichhörnchen gegeben, was jeden Tag in unserem Vorgarten gewesen war. Mein Vater und ich hatten es immer beobachtet, bis es wieder verschwand.
Eines Tages war es nicht mehr aufgetaucht, es kam nicht mehr, wochenlang. Es kam gar nicht mehr. Ich war so traurig gewesen.
"Manchmal passiert das. Manchmal ändern sich die Wege und die Dinge und manchmal geht jemand oder etwas und manchmal nimmt etwas Neues seinen Platz ein. So ist das eben. Dinge kommen und gehen. Menschen kommen und gehen. Aber es gibt Menschen, die immer bleiben. Es gibt Dinge, die immer so bleiben, wie sie sind, Schatz." Das hatte mein Vater gesagt und ich würde es nie vergessen, denn so wie das Eichhörnchen war auch er von einem auf den anderen Tag verschwunden.

"Was ist?", fragte Will und riss mich aus meinen Erinnerungen.

"Überall, wo ich hin gehe, sehe ich ihn. Ich sehe Dinge, die mich an ihn erinnern und dann erinnere ich mich an ihn. Ich weiß nicht warum, aber ich hab das Gefühl, er ist überall und doch nirgendwo", erwiderte ich und schaute zu Will.
Diesmal länger, weil wir eh nur geradeaus fuhren und Gegenverkehr war nicht in Sicht.

Wills Haare hingen ihm im Gesicht und deswegen sah ich seine Augen nicht. Dabei wollte ich sie so verdammt gerne sehen. Ich wollte seine dunklen Augen sehen und mich in ihnen verlieren, auch wenn es mir immer wieder weh tat.
Er seufzte.

"Weißt du, was das Schlimmste ist?
Ich dachte, dass wenn ich mal raus aus der Klinik komme, dass ich Karl vielleicht mal vergesse.
Nicht, dass ich ihn vergessen will - das will ich niemals - aber in der Klinik verbinde ich alles mit ihm und da dachte ich, dass es woanders vielleicht nicht so wäre", sagte er und seine Stimme zitterte.
"Ich hab mich getäuscht. Liz, du hast recht. Er ist überall. Karl ist überall. Er ist die Trauerweide dahinten, weil er Trauerweiden liebte und er ist das grüne Gras, weil er es mochte, auf der Wiese zu sitzen in Klinik Woods.
Er ist der graue Asphalt und der blaue Himmel.
Er ist überall. Er ist alles und doch nichts, weil er gar nicht hier ist und doch fühlt es sich so an.
Liz, es stimmt."

Seine Worte hingen in der Luft zwischen uns und der Wind zerzauste unsere Haare und wehte mir so heftig ins Gesicht, dass sich Tränen in meinen Augen sammelten.

Vielleicht weinte ich auch, weil ich nicht mehr konnte.
Weil Wills Worte so unglaublich waren und weil ich ihn so sehr liebte und weil ich meinen Vater vermisste und weil ich einfach unfassbar schwierig war.
Weil alles so unfassbar schwierig war.

Es war nicht nur der Wind, der mich zum Weinen brachte.
Und als ich nach links zu Will sah, der mich auch ansah, trafen sich unsere tränenden Augen.

Will weinte.
Tränen liefen über sein kantiges Gesicht, was dadurch irgendwie weicher wirkte.
Will weinte, als ob er es Jahre zurück gehalten hätte.

Und so fuhren wir nebeneinander her auf unseren geklauten Fahrrädern und weinten, weil wir Menschen vermissten, die weg waren und wir fuhren einfach weiter, weil uns nichts anderes übrig blieb.

Einfach weiterfahren, dachte ich.
Einfach weiterleben, dachte ich.
Wenn das nur so einfach wäre, wie Fahrrad fahren, dachte ich.

Freaks [wird überarbeitet]Where stories live. Discover now