22 - Han

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Kapitel 22 - Han

Ende September 2023

Das Taxi ging in eine leichte Rechtskurve, sachte wurde ich gegen das weiche Polster gedrückt. Ich verkniff mir ein Gähnen, stattdessen zog ich meine Gesichtsmaske etwas höher und schloss seufzend die Augen.
Ich spürte, wie der Fahrer bremste und gleich darauf abermals nach rechts abbog.
Ein feines Kribbeln machte sich in meinem Magen breit und ließ meine Mundwinkel unwillkürlich nach oben wandern.
Nicht mehr lange, dann wäre ich da.
Inzwischen kannte ich diese Strecke beinahe schon im Schlaf. Viele Male war ich sie in den letzten Jahren gefahren – gemeinsam mit Lee Know. Manchmal hatten wir den Weg vom Bahnhof zu seinem Elternhaus auch zu Fuß zurückgelegt, schließlich waren es nur wenige Kilometer. Doch heute fehlten mir die Motivation und die Energie zu einem Extraspaziergang.
Der lange Flug von New York nach Seoul hatte geschlaucht. Ich hatte noch nie besonders gut im Flugzeug schlafen können, umso mehr spürte ich den Jetlag in den Knochen. Am liebsten hätte ich mich nach der Ankunft sofort in mein Bett verzogen. Doch es gab Wichtigeres: Ich wollte zu Lee Know.

Über meinen geschlossenen Augenlidern huschten immer wieder die dunklen Schatten der vorbeiziehenden Bäume, der Wind rauschte durch den schmalen Spalt des geöffneten Fensters.
Das Taxi bog erneut ab und das aufgeregte Kribbeln in mir verstärkte sich.
Gleich.
Und obwohl die Wiedersehensfreude mit jedem zurückgelegten Meter größer wurde, war doch noch etwas anderes – etwas, das auf meine Brust drückte und mir das Atmen schwer machte.
Wie es ihm wohl ging?
Ich war zwar nur drei Tage weg gewesen, aber in der letzten Zeit war so viel passiert, dass ich es kaum schaffte, alles in meinem Kopf zu ordnen. Somit fühlte sich jeder Tag, den Lee Know und ich nicht miteinander verbrachten, doppelt so lang an.
Hoffentlich ging es ihm etwas besser als bei meiner Abreise. Wir hatten aufgrund der Zeitverschiebung nur wenig schreiben, geschweige denn telefonieren können. Außerdem hatten Changbin, Chan und ich tief in den Vorbereitungen zum Global Citizen Festival gesteckt, sodass fast keine Möglichkeit zum Durchatmen geblieben war. Alles hatte so schnell gehen müssen.

Das Taxi hielt und holte mich aus meinem Dämmerzustand.
Träge öffnete ich meine Augen und warf einen blinzelnden Blick aus dem Fenster. Unverändert strahlte mir die helle Fassade von Lee Knows Elternhaus entgegen. Die kleinen Bäume neben dem Eingang waren sorgfältig gestutzt, generell wirkte alles sauber und akkurat. Wahrscheinlich hatte Lee Knows Vater wieder seinen gesamten freien Tag darauf verwendet, alles perfekt herzurichten. Nur einmal hatten Lee Know und ich ihm dabei helfen wollen, aber wir hatten schnell erkennen müssen, dass unsere Anwesenheit im Garten nur den penibel ausgearbeiteten Plan seines Vaters durcheinander brachte. Somit hatten wir uns schnell wieder verzogen.

Ich atmete einige Male tief ein und aus, um meinen Puls zu beruhigen, während der Fahrer mein Gepäck aus dem Kofferraum holte.
Ob er überhaupt schon wach war?
Gestern kurz vor dem Abflug hatte ich ihm nur bestätigt, dass ich die kommenden Feiertage mit ihm verbringen würde und welche Zugverbindung ich nutzte. Seither herrschte Funkstille.
Angespannt biss ich mir auf die Unterlippe, während mein Blick abermals über die Fassade huschte. Alles wirkte so ruhig. Nur am Rande bekam ich mit, wie das Taxi hinter mir wegfuhr.
Ich konnte ein leichtes, aufgeregtes Zittern meiner Hände kaum verbergen, als ich schließlich mein Handy zückte.

»Bin da und steh vor der Tür.«

Mit klopfenden Herzen wartete ich auf eine Reaktion, aber mehr als die Lesebestätigung bekam ich nicht.
Mann, Lino!
Unruhig trat ich von einem Bein auf das andere, das Handy fest mit der Hand umklammert.
Ob er –

Dann wurde ich erlöst.
Es kam mir vor wie im Film, als sich die Haustür wie in Zeitlupe öffnete und ein dunkler verwuschelter Haarschopf hervorlugte. Aber vielleicht schaltete sich auch mein Hirn einfach nur auf Standby.
„Hanie."
Sein Mund wurde von einem schmalen Lächeln umspielt, das seine Augen allerdings nicht vollständig erreichte.
Dennoch –

Through the years (Minsung)Where stories live. Discover now