6 - Han

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Kapitel 6 - Han

Oktober 2022

Ich träumte.
Ich wusste es sofort, schließlich hatte ich diese Art von Träumen in den letzten Tagen wieder und wieder gehabt.
Und dennoch schlich sich ein kleines, glückliches Lächeln auf meine Lippen, als ich den Traumbildern weiter folgte. Mein Herz schlug schneller, eine angenehm kribbelnde Wärme durchflutete mich. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt und schwebte gleichzeitig auf einer Wolke. Die Umgebung verschwamm, wurde zu einem undeutlichen Wirrwarr aus schwachem Licht und gedämpften Geräuschen, die mich umfingen und in einen schützenden Kokon wickelten.
Ich folgte dem unbestimmten Gefühl in meiner Brust, das mich weiterzog, bis das Bild schließlich aufklarte.
Da war –

Kühle Hände berührten meine Arme, wanderten weiter, bis sie meine Finger fanden.
Mein Lächeln wurde breiter, Hitze flutete meine Adern und verstärkte das wunderbare Kribbeln in mir.
„...anie..."
Das Bild wandelte sich, die Hände blieben, hielten mich fest, während ich mich enger an den warmen Rücken vor mir schmiegte. Ich vergrub meinen Kopf an seiner Schulter, atmete seinen unvergleichlichen Duft ein.
Ich war glücklich... alles schien zu schweben, zu prickeln, mir den Atem zu rauben und mich gleichzeitig befreit Luft holen zu lassen.
Meine Lippen wanderten langsam über seinen Hals, kosteten von der weichen Haut, während der Griff um meine Finger fest wurde.
„Hanie..."
Ich ließ mich in dieses Gefühl fallen, wollte auf ewig hier verweilen, während alles um mich herum erneut unscharf wurde. Nur die Wärme blieb und mein rasender Puls.

Langsam lichtete sich die Umgebung. Verwirrung machte sich in mir breit, als sich die Bilder veränderten und unruhiger wurden. Die Wärme schwand, obwohl ich so sehr versuchte, sie festzuhalten, doch sie sickerte durch meine Finger hindurch.
Nein, ich durfte ihn nicht schon wieder verlieren.
Meine Augen brannten, während ich blind um mich tastete. Wo war er? Meine stummen Rufe verhallten ungehört.
Nein... bitte... bleib!

Ein Ruck ging durch meinen Körper, ich blinzelte ins Halbdunkel meines Zimmers und versuchte zu begreifen. So viele Gefühle kämpften in mir, fraßen sich in mein Herz und entließen den Atem nur stockend aus meiner Lunge. Das Brennen hinter den Augenlidern war übermächtig, doch irgendwie schaffte ich es, es zurückzudrängen.
Allmählich verschwanden die Bilder aus meinem Kopf, das schmerzhafte Gefühl des Verlusts blieb.

Wie oft hatte ich in den vergangenen Tagen diese Art von Traum gehabt? Wie oft war ich durch diesen verwirrenden Strudel aus Glück und Sehnsucht geschwommen, nur um gleich darauf zu erwachen und nur noch Leere zu spüren.
Gott, wie ich ihn vermisste. Es wurde immer schlimmer und nichts half dagegen.
Ein gequältes Seufzen verließ meine Lippen, während ich nichtssehend Richtung Decke starrte. Das sanfte Licht des geöffneten Laptops neben mir malte weiche Schatten an die Wände.
Ach ja... ich war vorhin während des Filmschauens eingeschlafen. Es war einer dieser Abende, den ich mal wieder allein verbrachte. Seit dem mehr oder weniger Streit zwischen Lee Know und mir verkroch ich mich immer öfter in meinem Zimmer. Er wollte mich nicht in seiner Nähe haben und die Gegenwart der anderen – oder vielmehr ihre fragenden und besorgten Blicke – ertrug ich momentan nur schwer. Zu sehr verstärkten sie das Gefühl des Verlusts. Konnte es nicht wieder so sein wie zuvor? Bevor sich diese Mauer zwischen uns gebildet hatte?

Vorsichtig bewegte ich den Kopf hin und her, in meinem Nacken zog es unangenehm. Anscheinend hatte ich mal wieder seltsam verdreht im Bett gelegen.
Ob Lee Know auch –

Eine Bewegung aus den Augenwinkeln ließ mich innehalten.
Mein Herz machte einen Sprung, mit einem Mal war ich hellwach. Vergessen waren die Schmerzen.
Was –
„Lino!"
Das konnte doch nicht –
Er war hier!
Hastig tastete ich nach den Kopfhörern, die ich zum Filmschauen genutzt hatte, und zerrte sie aus meinen Ohren. Ich fühlte mich plötzlich seltsam zittrig
Himmel, er war wirklich hier... bei mir.
„Lino...", hauchte ich.
Für einen kurzen Augenblick vermischten sich die letzten Traumbilder mit der Realität, ehe sie gänzlich schwanden. Ich konnte es kaum glauben. Am liebsten hätte ich die Hand ausgestreckt und ihn berührt, um mich zu vergewissern, dass ich ihn mir nicht einbildete.

Through the years (Minsung)Where stories live. Discover now