Tränen

52 6 0
                                    

Clarisia

Am Abend liessen mich laute Klopfschläge an meiner Tür den Kopf heben. Alarmiert sprang ich von meinem Bett.
Nach kurzem Zögern griff ich nach der Nachttischlampe und ging in die Knie.
"Ja?" Meine Stimme zitterte leicht.
Jonah stürmte in mein Zimmer, die dunklen Brauen zusammengezogen.
Sein Blick glitt über meine kampfbereite Pose und seine Miene verfinsterte sich nur noch mehr.
Hinter seinem Rücken konnte ich Lorelie auf dem Gang erkennen, sie trat von einem Fuss auf den Andern, die Stirn gerunzelt. Langsam stellte ich die Lampe zurück auf den Nachttisch.

"Stimmt es?", fragte mein Bruder aufgebracht.
Ich schob die Unterlippe vor und hob das Kinn. "Ich habe mich auf Damien Lynch geprägt."
"Nicht das." Er wedelte kurz mit der Hand. "Hat er dich vergewaltigt?"
"Was?" Mein Blick wanderte hinüber zu Lorelie, die flüchtig den Kopf schüttelte. "Nein, natürlich nicht!"
"Natürlich nicht?", wiederholte Jonah, Röte kroch von seinem Hals hinauf in sein Gesicht. "Lori hat erzählt, dass du geschrien hast, als er bei dir war! Und geweint!"

Er strich mit den Händen über sein angespanntes Gesicht. "Mein Gott, Cass, dein Kleid war zerrissen!"
"Ich..." Die Worte erstarben in meiner Kehle, ich senkte den Blick.
"Ich bringe ihn um!", schrie Jonah wutentbrannt.
Er wirbelte auf dem Absatz herum, doch ich packte ihn am Arm. "Jonah!"
Mein Bruder wand sich unter meinem Griff.
"Er hat mich nicht vergewaltigt, Jonah!", sagte ich hastig. "Er war grob und er wollte... er hat... er hat es nicht getan, hörst du?"

"Was wollte er?!", brüllte Jonah.
Eine Ader pochte in wildem Rhythmus an seinem Hals.
Mit der Zunge befeuchtete ich meine Lippen. "Jonah, es ist nichts passiert."
"Oh, verdammt noch mal, du kannst es nicht schön reden", knurrte er, ein Blitzen in den verdunkelten Augen. "Er soll gefälligst seine Finger von dir lassen!"
Mein Bruder riss sich los und stürmte hinaus auf den Gang.

"Jonah, nein!", rief ich entsetzt.
Ich stürzte vor, mit aller Kraft zerrte ich ihn von Damiens Tür fort.
"Wenn du ihn herausforderst und er die Kontrolle verliert, wird er dich töten!", brachte ich mit angsterfüllter Stimme heraus. "Bitte!"
Mein Bruder starrte in mein Gesicht, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig unter den schnellen Atemzügen.
"Bitte, Jonah", flüsterte ich, woraufhin sich sein Körper etwas entspannte.

"Du bist meine kleine Schwester."
Tränen glitzerten in seinen dunklen Augen. "Er soll dich gefälligst ehren, das hast du mehr als verdient." Seine Stimme brach und er räusperte sich.
Ein Kloss bildete sich in meinem Hals, meine Augen begannen zu brennen.
Jonah nahm mich in den Arm, etwas, was er schon lange nicht mehr getan hatte. Bevor ich sie zurückhalten konnte, schüttelten laute Schluchzer meinen Körper. Ich presste meinen Mund gegen Jonahs Schulter, um die fremd klingenden Laute zu dämpfen.
Fest schlangen sich seine Arme um meinen Rücken, vermittelten mir Geborgenheit.

"Er ist ein Arsch", murmelte Jonah an meinem Ohr. "Wenn er dich noch einmal anfasst, werde ich ihn kastrieren."
Trotz den Tränen entlockte er mir ein Lachen.
"Bitte nicht", sagte ich und wischte mit dem Handrücken über meine Nase. "Sonst muss ich für den Rest des Lebens meine Hitze ertragen."
Jonah drückte mich fest an sich, bis die letzte Träne versiegt war.

Nachdem Lorelie meinen Bruder von Damiens Zimmer wegführen konnte, setzte ich mich auf mein Bett.
Ich hatte meinen Gefährten den ganzen Tag über nicht ein einziges Mal gesehen, obwohl sein Geruch ständig in der Luft lag. Ich unterdrückte das Bedürfnis zu ihm zu gehen.
Das Verlangen frass mich innerlich auf, doch die Angst war stärker.
Angst, dass er mich ein erneutes Mal abwies, Angst davor, dass er wieder die Kontrolle verlor.

-------------------------------------------------------------

Der Morgen verspottete mich mit strahlendem Sonnenschein,
fröhliches Vogelgezwitscher erfüllte den Wald, als ich neben Lorelie zur Schule lief. Die Werwölfe, die uns auf dem Weg begegneten, musterten mich neugierig.
Ich senkte den Blick auf meine Schuhe, darauf bedacht keine Miene zu verziehen.

"Cass!" Der Ruf liess mich den Kopf heben.
Derik hastete auf uns zu, die Wangen gerötet. Der Gurt seiner Ledertasche drohte über seine Schulter zu rutschen.
Kaum hatte er Lorelie und mich erreicht, holte er tief Luft. "Bist du wahnsinnig geworden?"
Verwirrt runzelte ich die Stirn.
"Wenn du mich unbedingt umbringen willst, dann kannst du mir einfach ein Messer in den Rücken rammen!", rief er aufgebracht.
Erschrocken sah ich in seine Augen, das helle Blau verdunkelte sich vor Ärger.

"Es tut mir leid", sagte ich hastig. "Ich dachte nicht, dass er es herausfindet."
"Cass, er ist der junge Alpha!", erwiderte Derik heftig. "Hast du wirklich das Gefühl, er würde das nicht riechen, wenn ich bei dir bin?"
Er zog den Ledergurt an seiner Schulter in die Höhe. "Wenn ich gewusst hätte, dass du dich auf ihn geprägt hast, hätte ich niemals eingewilligt!"
Derik schnappte nach Luft, seine Augen nun beinahe schwarz.
"Ich hätte dich nicht einmal näher als drei Meter an mich herangelassen! Ich mag mein Leben viel zu sehr, es ist nämlich gar nicht so übel, ich zu sein!"

"Derik, es tut mir so leid", brachte ich mit zitternder Stimme heraus.
Schon wieder stiegen heisse Tränen in meine Augen und ich blinzelte heftig, um sie zurück zu halten.
Er presste die Lippen zusammen, sodass sie sich zu einem schmalen Strich verzogen. "Wenn seine Markierung auf deinem Nacken prangt, können wir wieder Freunde sein, Cass."
"Nein, Derik!" Ein kalter Schmerz legte sich wie eine Klaue um mein Herz. "Bitte, du musst mir verzeihen!"

Derik mied den Blick auf meine Tränen, die nun über meine Wangen kullerten.
"Ich weiss, du hast es nicht mit Absicht gemacht. Du hast einfach zu wenig nachgedacht. Aber ich kann nicht riskieren nochmals in deine Nähe zu kommen", fuhr er heftig fort. "Also sind Umarmungen, gemeinsames Lachen und alle anderen Arten von Zuneigung in nächster Zeit gestrichen."
Er deutete mit spitzem Finger auf meinen Hals. "Solange, bis er dich als seins gezeichnet hat."
Mit diesen Worten zerrte er den Gurt seiner Tasche auf die Schulter und liess mich stehen.

Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen, unfähig die Tränen zu stoppen.
Ein warmer Arm legte sich um meinen zitternden Rücken.
"Es wird wieder gut werden, meine Liebe", hörte ich Lorelies sanfte Stimme.
"Ich will das alles nicht!", piepste ich. "Dann will ich lieber wieder keine Prägung haben!"
Lorelie drückte mich an sich, ich konnte den Hauch von Vanille in ihrem Parfum riechen.
"Mit seinem Gefährten zusammen zu sein ist sehr schön, Cass", sagte sie leise.

"Aber er will mich nicht!", schluchzte ich, verärgert über meinen Gefühlsausbruch wischte ich mit dem Ärmel über mein Gesicht, das sich geschwollen anfühlte.
"Seit dem Mittwoch habe ich ihn nicht mehr gesehen, kein einziges Mal! Und meine Hitze bringt mich um!"
Fest presste ich eine Hand gegen den lodernden Schmerz in meinem Bauch.

"Es wird wieder gut werden." Lorelie küsste mich tröstend auf die Stirn. "Du wirst schon sehen."
Nachdem ich mich auf dem Mädchenklo nachgeschminkt hatte, um die Spuren der Tränen zu verwischen, setzte ich mich neben meine beste Freundin ins Klassenzimmer.
Damien erschien auch heute nicht zum Unterricht.

Aufbrausend, Ahnungslos, AlphaWhere stories live. Discover now