Familie

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14 Jahre alt, Clarisia

Einen Karton unter den Arm geklemmt und die grosse Tasche über der Schulter, holte ich tief Luft.
Hinter Lorelies aufrechtem Rücken trat ich über die Schwelle.
Die anderen Bewohner des Jugendhauses beäugten uns Neuankömmlinge mit neugierigen Mienen.
Die ältesten Jungen und Mädchen räkelten sich in den abgewetzten Sesseln vor dem Fernseher und nahmen kaum Notiz davon, wie wir zögernd zur Treppe gingen.

"Cass, Lori!", rief Deriks Stimme von oben.
Ich legte den Kopf in den Nacken und sah in den ersten Stock, wo der Junge sich über das hölzerne Geländer lehnte.
Seine Augen strahlten hell und erinnerten an die Farbe von Gletschereis.
"Kommt hoch, bevor die guten Zimmer weg sind!" Aufgeregt winkte Derik uns zu.
Die Stufen knarzten leise unter meinem Gewicht, während ich vor Lorelie seiner Aufforderung folgte.

Meine beste Freundin und ich ergatterten unsere Zimmer neben dem von Derik.
Da er in der Unterstufe eine Klasse hatte wiederholen müssen, war er bereits ein Jahr älter als wir, was ihn jedoch nicht daran hinderte, sich wie einen unreifen Vierzehnjährigen zu benehmen.
Damit er im Freundeskreis bleiben konnte, trainierte er auch mit unserer Altersstufe und zog gemeinsam mit uns in das Jugendhaus ein.

Mit lautem Kreischen sausten Lorelie und ich durch unsere Zimmer und rätselten kichernd darüber, wer wohl wo seine Bleibe für die nächsten Jahre gefunden hatte.
Ich warf die grosse Tasche auf mein Bett, auspacken konnte ich später.
Mit glühenden Wangen schloss ich die Tür hinter mir und wollte bei Lorelie anklopfen. In diesem Moment öffnete sich die Tür gegenüber, auf der anderen Seite der Treppe, und ich sah in Damiens Gesicht.

Für ein paar Sekunden starrten wir uns in die Augen. Schliesslich zog er die Brauen zusammen.
"Was gibt es da zu glotzen", motzte er.
"Hässliche Aussicht", murmelte ich leise, doch an dem genervten Ausdruck zu urteilen, der sich auf sein Gesicht schlich, hatte er mich gehört.
"Oh Gott", stöhnte er auf. "Jetzt muss ich deine dämliche Visage auch noch jeden Abend ertragen."

Überrascht stellte ich fest, dass er in den Ferien um einiges gewachsen war.
Der Sommer hatte eine tiefe Bräune auf seiner Haut hinterlassen, sie schimmerte bronzen im sanften Licht, das durch die Fenster schien.
Seine hellen Haare fielen zerzaust in seine Stirn und die blauen, beinahe grünen Augen funkelten mich herausfordernd an.

"Hör auf mich so anzustarren, als ob du noch nie einen Jungen gesehen hast", fuhr er mich an. "Sonst muss ich brechen."
Seine Worte liessen eine Welle der Wut durch meinen Körper rauschen.
"Ich hasse dich!", zischte ich, die Hände zu Fäusten geballt.
Ein selbstgefälliges Grinsen verzog seine Lippen. "Dieses Kompliment höre ich gern."

Clarisia

Als der Wecker klingelte, schlug ich die Bettdecke zurück. Ich war hellwach.
In Windeseile zog ich mich an und klaubte das kleine Geschenk aus meiner Schminktischschublade.
Meergrünes, glänzendes Papier umschloss das Kästchen, eine dunkelviolette Schleife bildete dazu einen starken Kontrast.
Hastig strich ich mit den Fingern über meine zerzausten Haare und trat hinaus auf den Gang.

Sie wartete bereits auf mich, ein fröhliches Lächeln auf dem Gesicht.
"Alles Gute zum Geburtstag, meine Liebe!", rief ich.
Ich schloss meine Arme um meine Freundin und drückte sie so fest, dass sie nach Luft schnappte.
"Danke!", entgegnete Lorelie.
Derik trat auf den Gang, dicht gefolgt von Jessy. Die Beiden umarmten Lorelie und gratulierten, woraufhin sie laut lachte.

"Das ist für dich." Ich drückte ihr das Geschenk in die Hände.
Mit grossen Augen zerriss sie das grüne Papier, die Schleife segelte ungeachtet zu Boden. Vorsichtig öffnete Lorelie das Kästchen.
"Oh, danke, Cass!", brachte sie hervor. Ihre Stimme bebte leicht. "Es ist wunderschön!"
Das Armband mit dem silbernen Mondanhänger glitzerte im Licht der Morgensonne, die durch die Fenster fiel.

Aufbrausend, Ahnungslos, AlphaWhere stories live. Discover now