Kapitel 35

111 21 12
                                    

In den darauffolgenden Tagen machte ich große Fortschritte, was meine Genesung anging. Das für mich persönlich schönste Gefühl war, als ich das erste Mal aufstehen und zur Toilette gehen durfte. Es bedeutete ein großes Stück Freiheit, den Katheter und die blöde Bettpfanne loszuwerden. Und auch wenn ich das Ziehen des Katheters nicht unbedingt als angenehm beschreiben würde, hatte es letztlich deutlich weniger wehgetan als befürchtet.

Dadurch dass ich nun bei Bewusstsein war und mein Gehirn ganz offensichtlich keine bleibenden Schäden davongetragen hatte, wurde ich nach und nach auch von den ganzen Kabeln und Elektroden befreit, die meine Vitalfunktionen überwacht hatten. Ich konnte ja jetzt selber Bescheid geben, wenn ich mich nicht gut fühlte. Und das musste ich leider auch immer wieder.

Es wäre die Übertreibung des Jahrhunderts zu behaupten, dass es mir schnell wieder gut ging. Ganz im Gegenteil... Ich musste leider jeden Tag aufs Neue feststellen, dass mir Kleinigkeiten wie das An- und Ausziehen oder duschen zu gehen unheimlich schwer fielen. Oftmals scheiterte ich einfach, weil mich der bloße Versuch allein so viel Kraft kostete, dass ich fast dabei zusammenbrach. Trotzdem war ich von jedem noch so kleinen Fortschritt begeistert. Allein die Tatsache, dass ich meine eigenen Klamotten anziehen durfte, ließ mich innerlich Freudentänze aufführen. Ich fühlte mich direkt besser und wieder ein kleines bisschen mehr wie ich selbst, als ich dieses blöde Hemd, das an der Rückseite nur mit zwei Bändern zugeschnürt wurde, ausziehen durfte.

Der erste Blick in den Spiegel war allerdings heftig gewesen. Die langsam verheilenden Wunden an meinen Armen hatte ich bereits gesehen. Rote Striemen und aufgeplatzte Bläschen wie nach einer Verbrennung zogen sich über meine Haut. Dass ich diese aber auch im Gesicht und auf der kompletten Brust hatte, war mir nicht bewusst gewesen. Allerdings verstand ich nun, weshalb Harry stets so vorsichtig gewesen war, wenn er mich berührt hatte. Meine Mum erzählte mir mit Tränen in den Augen, dass ich mir die meisten Wunden im Kampf mit den unsagbaren Schmerzen selbst zugefügt hatte. Kaum zu glauben. Ich hatte mir wortwörtlich die Haut vom Leibe gekratzt. Zum Glück hatte mein Hirn die Erinnerungen an dieses Erlebnis gelöscht. Hoffentlich unwiederbringlich...

Das Sauerstoffgerät und der dazugehörige Schlauch in meiner Nase blieben erstmal. Meine Lunge hatte das Gift am meisten geschädigt und die Heilung würde dauern. Dass ich die zusätzliche Sauerstoffzufuhr brauchte, merkte ich immer dann, wenn sie mir für kurze Zeit - zum Duschen oder beim Umziehen - weggenommen wurde. Dann fühlte ich mich, als hätte mir jemand ein Seil um die Brust geschlungen und es zugezogen. Ich holte Luft, aber es kam kaum etwas an. Ein unheimlich beklemmendes Gefühl, das einem wirklich Angst machen konnte. Mal ganz davon abgesehen, wie schnell der Schwindel einsetzte und die Konzentration nachließ. Ich war jedesmal froh, wenn ich mir den Beatmungsschlauch wieder anlegen durfte. Mit dem kam ich klar, auch wenn es nervte, das Beatmungsgerät mitzuschleppen, wenn ich irgendwohin wollte. Da ich mich aber eh kaum aus meinem Zimmer bewegen konnte und durfte, weil bereits drei Schritte auf dem Gang der Station, auf die ich nach der Intensivstation verlegt worden war, genügten, um mich so zu erschöpfen, dass ich erstmal eine Runde schlafen musste, störte mich der Umstand kaum. Trotzdem war Doctor O'Sullivan überaus zufrieden mit mir und meinte, dass die Sauerstoffzufuhr immer mehr reduziert werden würde, bis meine Lunge es wieder alleine schaffen würde.

Überhaupt glich es anscheinend einem Wunder, dass es mir schon wieder verhältnismäßig gut ging. Die Wortwahl des Arztes war zwar eine andere, aber der Sinn dahinter war der gleiche: Ich hätte durchaus sterben können und es hatte Stunden gegeben, in denen es fifty-fifty gestanden hatte, ob ich überlebte oder nicht.

Der Gedanke war beängstigend. Gar nicht mal so sehr für mich selbst. Ich hatte lange und oft über die Zeit nachgedacht, in der ich nicht bei Bewusstsein gewesen war. Wenn der Tod bedeutete, sich dem Nichts vollständig zu ergeben... zu resignieren und die absolute Stille, in der jedes Bedürfnis bedeutungslos war, zuzulassen und einfach nur zu sein... ohne Gedanken oder Gefühle... dann hatte ich keine Angst davor. Ich hatte es für eine kurze Zeit erlebt, wusste, dass es dort nicht schlimm war... gar nicht sein konnte. Der Tod, so wie ich ihn jetzt verstand, bedeutete, die Seele an einen Ort gehen zu lassen, an dem weder Gut noch Böse existierte, und den leblosen Körper zurückzulassen. Nichts daran erschien mir schlimm. Zumindest nicht für mich selbst.

Roter SandWhere stories live. Discover now