Kapitel 6

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Noch immer hielt ich meine Gabel auf halbem Wege zu meinem Mund in der Luft. Das Rührei darauf war längst kalt, doch ich konnte mich nicht bewegen. Mein Gehirn konnte und wollte nicht verarbeiten, was da gerade geschehen war. Ich blickte starr zur Küchentür, durch welche die beiden Polizeibeamten vor ein paar Minuten mit Harry und Anne verschwunden waren. Sie hatten Harry nicht abgeführt, hatten ihm keine Handschellen angelegt oder so. Solch übertriebene Vorgehensweise gaukelte uns Hollywood nur vor, um die Dramatik in Filmen und Serien zu erhöhen. Officer Barrow hatte Harry auch nicht über seine Rechte aufgeklärt, so im Sinne von "Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden." Das war auch gar nicht nötig gewesen. Harrys hatte so blass und geschockt ausgesehen, er hätte kein Wort herausbekommen - da war ich mir sicher.

Und außerdem... dass sie ihn mit auf ihr Revier genommen hatten, hieß doch gar nichts. Sie warfen ihm doch nichts vor, schon gar nicht einen Mord. Mir wurde allein bei diesem Gedanken eiskalt und plötzlich schienen sich die Zahnräder in meinem Kopf doch weiter zu bewegen und machten mir etwas ganz Entscheidendes bewusst: ein Mädchen war tot. Ich hatte sie zwar nicht gekannt, hatte nie ein Wort mit ihr gesprochen, doch sie hatte einen Namen. Taylor. Taylor war tot. Vor ein paar Stunden war sie noch auf derselben Party gewesen wie ich. Hatte mit denselben Leuten geredet wie ich. Ich hatte noch so genau vor Augen, wie sie in ihrem roten Kleid bei Harry gestanden hatte. Wie sie sich durch ihre Haare gefahren war. Wie glücklich sie ausgesehen hatte. Ich war eifersüchtig auf sie gewesen, weil sie Harry so nah sein konnte, wie ich gerne wollte. Und jetzt war sie tot. Einfach so.

In meinem Hals bildete sich ein Kloß, der immer größer wurde. Ich versuchte verzweifelt zu schlucken. Ich hatte das Gefühl, mir schnürte etwas die Luft ab. Die Gabel fiel klirrend auf den Fußboden. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass sie mir aus der Hand gerutscht war. In meinen Ohren ertönte ein Rauschen. Nichts um mich herum nahm ich mehr wahr. Da war nur dieser eine alles verdrängende Gedanke: Taylor war tot. Sie würde nie wieder lachend bei Harry stehen. Nie wieder dieses rote Kleid tragen. Oh Gott und was war mit ihrer Familie? Sie hatte Eltern und vielleicht auch Geschwister. Ich wusste so gut, wie es sich anfühlte, ein Familienmitglied zu verlieren, aber mein Vater war krank gewesen. Wir konnten uns über Monate auf seinen Tod vorbereiten. Taylor war erst siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre alt gewesen. Sie hätte ihr Leben noch vor sich haben sollen.

Ich zitterte am ganzen Körper. Der Kloß in meinem Hals stieg immer höher und plötzlich wurde mir schlecht. Ich sprang von meinem Stuhl auf, achtete nicht darauf, dass dieser durch den Schwung umkippte und rannte in Richtung des kleinen Gäste-WCs. Eine Hand hielt ich mir bereits vor den Mund aus Angst, dass ich es nicht rechtzeitig ins Bad schaffen könnte. Tränen brannten in meinen Augen. Ich sah nur noch verschwommen, als ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen ließ und vor der Toilette zusammenbrach. Mit letzter Kraft öffnete ich den Toilettendeckel und erbrach mein Frühstück. Mein Magen verkrampfte sich mit solcher Heftigkeit, dass ich zwischendurch kaum Luft holen konnte. Ich hustete und japste, Tränen rannen in nicht enden wollenden Bächen mein Gesicht hinab und brannten sich schier in die Haut meiner Wangen. Immer wieder würgte ich verzweifelt, obwohl sich längst nichts mehr in meinem Magen befand. Bittere Galle stieg meine Speiseröhre empor, bahnte sich ihren Weg durch meine Mundhöhle und tropfte in die Kloschüssel. Allein der Geruch brachte mich erneut zum Würgen, aber mir fehlte schlichtweg die Kraft, die Spülung zu betätigen und so ergab ich mich einfach meinem Schicksal.

Die Zeit, bis meine Qual endlich begann nachzulassen, fühlte sich endlos an. Ich hatte meine Unterarme auf der Klobrille abgelegt und ließ meine Stirn, auf der kalter Schweiß stand, auf sie fallen. Schließlich konnte ich wieder halbwegs normal atmen und meine Lungen dankten es mir, indem sie mein Herz dazu brachten, wieder in einem normalen Tempo zu schlagen.

Roter SandWhere stories live. Discover now