Kapitel 21

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Noch eine gefühlte Ewigkeit hatte ich an Harrys Seite auf seinem Bett gesessen und seinen Schlaf bewacht. Mein Kopf war vollkommen leer gewesen. Ich hatte keinen klaren Gedanken fassen können außer dem, unbedingt auf Harry aufpassen zu müssen. Abwechselnd hatte ich auf der Matratze neben ihm gehockt und sein Gesicht betrachtet, das trotz Blässe und Sorgenfalten so schön aussah, und hinter ihm gelegen, um ihn im Arm zu halten.

Ich hätte wahrscheinlich noch so lange damit weitergemacht, bis er wieder aufgewacht wäre, doch irgendwann hatte sich nach einem vorsichtigen Klopfen die Tür geöffnet und Harrys Mum hatte ins Zimmer geschaut. Ihre Sorge war fast greifbar gewesen, als sie ihren schlafenden Sohn erblickt hatte und mich hatte mein schlechtes Gewissen ergriffen, weil ich mich hier oben verkrochen hatte, anstatt Anne von den Ereignissen bei Ruth Payne zu berichten.

Letztendlich war ich mit ihr hinunter in die Küche gegangen, wo meine Mutter uns schon erwartet hatte. Dort hatte ich mich beim Erzählen zusammenreißen müssen, um nicht in Tränen auszubrechen. Anne hatte tapfer zugehört, obwohl die Farbe immer mehr aus ihrem Gesicht gewichen war. Zum Glück hatten meine Mum und sie sich nach all den Jahren wiedergefunden. Meiner Mum tat es gut, mit jemandem reden zu können, der Ähnliches erlebt hatte wie sie selbst. Jemand, der es nachvollziehen konnte, wie es sich anfühlte, wenn man den eigenen Mann verloren hatte. Und andersherum konnte meine Mum Anne während der letzten Tage Kraft spenden und sie unterstützen.

Das tat sie jetzt bestimmt auch, was mein Gewissen etwas erleichterte. Ich hätte wahrscheinlich länger bei den beiden bleiben und mehr erzählen müssen. Detaillierter oder so. Aber ich konnte einfach nicht. Also war ich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit nach oben geflohen und saß nun auf der Bank in der Lounge-Ecke des Balkons und starrte die Zigarettenpackung vor mir an. Ich war so durcheinander und aufgewühlt, dass meine Hände trotz der achtundzwanzig Grad Lufttemperatur zitterten. So leer mein Kopf bis vor einer halben Stunde noch gewesen war, so sehr platzte er nun aus allen Nähten. Plötzlich prasselte alles auf mich ein. Taylors Tod. Die Schwarze Tollkirsche. Die Ermittler der Polizei, die dachten, dass Harry und Taylor sich das Gift absichtlich gespritzt hatten. Herzversagen. Harry, der völlig außer sich herumschrie. Harry am Boden der Arztpraxis. Harry, der zusammenbrach. Harry...

Ohne weiter darüber nachzudenken, zündete ich mir eine Zigarette an und sog den Rauch in meine Lungen. Erst nach dem dritten Zug hörte die Welt um mich herum auf sich zu drehen und mein Herzschlag beruhigte sich langsam wieder. Ich fuhr mir mit der Hand durch mein Gesicht und zog meine Beine auf die Couch.

Was sollten wir denn jetzt bloß machen? Wie konnten wir die Polizei davon überzeugen, dass Harry niemals Drogen nehmen würde und eine dritte Person beteiligt gewesen sein musste, obwohl es keine Hinweise auf diese Person gab? Für die Ermittler waren die Indizien schlüssig und ich konnte das durchaus verstehen. Zwei privilegierte Jugendliche, die sich mit einer Droge vergnügten, die sogar legal war und normalerweise nur einen leichten Rausch auslöste. Und dabei war eben etwas schiefgegangen. Solche Geschichten gab es doch en masse in den Medien.

Nur war dies eben kein Zeitungsartikel über irgendwelche Jugendlichen. Hier ging es um jemanden, den ich kannte und der mir mittlerweile sehr nahe stand. Und derjenige lag in diesem Moment ein paar Meter weiter in seinem Bett und machte sich unvorstellbare Vorwürfe, weil seine Freundin tot war und er beschuldigt wurde, mitverantwortlich für ihren Tod zu sein.

Und dann war da noch Taylor. Ich kannte sie zwar nicht persönlich, aber in den letzten Tagen wurde so viel von diesem Mädchen mit den blonden Haaren und den langen Beinen geredet, dass es mir so vorkam, als hätte ich sie doch gekannt. Ihr Tod war so unnötig. So unfair. Ich war mir sicher, dass diese dritte Person auch Taylor nur betäuben wollte. Was auch immer er oder sie damit bezwecken wollte, Taylors Tod war bestimmt nicht das Ziel gewesen. Wenn selbst Harry, der die Blondine seit Jahren kannte, nicht wusste, dass sie ein geschwächtes Herz-Kreislauf-System hatte, dann wusste es vermutlich auch der Täter nicht. Das rechtfertigte die Tat natürlich nicht und auch sonst brachte es uns nicht weiter, aber der Gedanke ließ mich nicht los.

Roter SandWhere stories live. Discover now