Roter Sand

Kapitel 10

Das Erste, was ich bewusst wahrnahm, als ich aufwachte, war ein Klopfen. Ich öffnete meine Augen einen Spalt und seufzte zufrieden. So gut wie in den vergangenen Stunden hatte ich lange nicht geschlafen. Ich fühlte mich erholt und vollkommen tiefenentspannt.

Harrys Kopf lag noch immer auf meiner Brust, seine Hand konnte ich an meiner Taille spüren. Er musste sie im Schlaf dorthin geschoben haben. Ich konnte seine gleichmäßigen Atemzüge hören und fühlte seinen ruhigen Herzschlag an meinem Oberkörper. Er schlief eindeutig noch und ich hatte nicht vor, ihn zu wecken. Mir gefiel die Intimität der Situation. Ich ließ meine Fingerspitzen über seinen Oberarm wandern und genoss die Wärme und Weichheit seiner Haut. Völlig umhüllt von Harrys Geruch vergrub ich meine Nase in seinen Haaren und musste lächeln, weil sie mich kitzelten.

Ich hätte ewig so liegen bleiben können, doch als ich meine Augen wieder schloss, um noch etwas vor mich hin zu dösen, klopfte es erneut. Diesmal war ich wach genug, um zu verstehen, dass jemand an der Tür stand. Auch Harry schien langsam aufzuwachen. Er gab ein gequältes Knurren von sich, das mehr als nur niedlich klang, drückte sein Gesicht an meine Brust und presste seinen Körper an mich. Sein Bein schob er angewinkelt über meine Oberschenkel und sein Arm hielt mich umklammert. Ich hätte mich, selbst wenn ich gewollt hätte, nicht bewegen können. Schon wieder. Einen kleinen Kontrollzwang konnte er definitiv nicht leugnen.

„Harryspatz, bist du wach?", drang Annes Stimme leise von der anderen Seite der Tür zu uns.

„Mh mh", murmelte Harry in mein T-Shirt, drehte dann aber sein Gesicht in Richtung Tür, „Komm rein, Mum."

Ich war etwas überrumpelt von Harrys Offenheit. Wir lagen hier immerhin ineinander verschlungen in Harrys Bett und es war naheliegend, dass wir nicht nur geschlafen hatten. Immerhin lagen unsere Klamotten verstreut vor, neben und auf dem Bett. Allerdings hatte ich keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, welchen Eindruck wir bei Anne erweckten, denn im nächsten Moment stand sie bereits in der Tür. Ihr Gesichtsausdruck war für einen kurzen Augenblick überrascht, als sie mich unter Harry erblickte, doch sie fing sich schnell wieder und lächelte mich liebevoll an. Ich spürte, wie meine Wangen rot wurden. Solche Situationen befanden sich eindeutig außerhalb meiner Komfortzone, denn da ich für gewöhnlich nicht bei anderen Männern übernachtete, kam ich auch nie in die Verlegenheit, am nächsten Morgen auf Eltern, Geschwister oder Mitbewohner zu treffen.

Anne schien der Umstand, dass ein Mann im Bett ihres Sohnes lag, jedenfalls nichts auszumachen und auch Harry erweckte nicht den Anschein, dass es ihm in irgendeiner Weise unangenehm war.

„Ich wollte nur schauen, wie es dir geht, aber du konntest offensichtlich schlafen.", schmunzelte Anne und konnte sich ein wissendes Grinsen nicht verkneifen. „Wenn ihr Hunger habt, im Esszimmer steht Frühstück bereit."

„Danke Mum.", antwortete Harry. Seine Stimme klang noch ganz verschlafen und leicht kratzig.

Ich murmelte ebenfalls ein „Danke." in Harrys Haare und dann drehte sich Anne wieder um und schloss die Tür hinter sich.

Ich musste peinlich berührt lachen. „Was denkt deine Mum jetzt?"

Harry blickte zu mir hoch und antwortete mit einer Gegenfrage: „Was soll sie denn denken?"

„Keine Ahnung..." Ich konnte dem Blick seiner grünen Augen nicht standhalten und verfolgte stattdessen meine Finger, die noch immer über Harrys Oberarm strichen. „Ich meine... weiß sie, dass du auch auf Männer stehst?"

Ich konnte es nicht sehen, aber ich konnte das Schmunzeln in Harrys Stimme hören: „Ja, das weiß sie. Warum denn auch nicht?! Weiß deine Mum nicht, dass du schwul bist?"

„Doch, natürlich weiß sie das. Ich hab noch nie ein Mädchen mit nach Hause gebracht und immer nur Typen angehimmelt. Sie hätte blind sein müssen, um das nicht zu merken. Ich glaube, Dad und ihr war das sogar eher klar als mir." Jetzt sah ich doch wieder Harry an, der mich interessiert musterte.