Kapitel 22

124 21 19
                                    

Den restlichen Nachmittag verbrachten wir abwechselnd in Harrys Zimmer mit der PlayStation 5 und unten bei unseren Müttern. Anne hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, noch einmal selbst mit ihrem Sohn über die Ereignisse des Tages zu sprechen. Harry war dabei überraschend gefasst geblieben. Ob es nun daran lag, dass er den ersten Schock bereits verdaut oder seine wahren Gefühle verdrängt hatte, um es für seine Mum leichter zu machen, konnte ich nicht sagen. Letztendlich war ich aber einfach froh darüber, dass Harry über Taylor und ihren Tod reden konnte, ohne erneut zusammenzubrechen. Den Kloß in seinem Hals hatte er aber dennoch nicht vor mir verbergen können und auch Anne musste ihn wahrgenommen haben, da sie sich trotz der vielen nur allzu offensichtlichen Fragezeichen in ihrem Gesicht zurückgehalten hatte. Ihrem Sohn zuliebe.

Während Harry mit Anne gesprochen hatte, war meine Mum ebenfalls zu mir gekommen. Sie hatte bereits an unserem zweiten Urlaubstag miterlebt, dass ich beim Thema Harry sensibler und intensiver reagierte, als ich es für gewöhnlich tat. So wenig wie ich normalerweise etwas an mich heranließ oder es eben mit mir allein ausmachte, so sehr belastete mich alles, was mit ihm zu tun hatte. Ich konnte es einfach nicht zurückhalten und meine Mum merkte das. Sie kannte mich einfach zu gut. Mutterradar oder so.

Zum Glück wusste sie ebenso genau, wie sie in solchen Momenten mit mir umgehen musste. Sie fragte mich nicht hemmungslos aus oder gab mir massenhaft gut gemeinte Ratschläge. Stattdessen kam sie, als ich alleine auf der Terrasse saß und von meiner Flut aus Befürchtungen und Sorgen überschwemmt wurde, mit zwei geöffneten Flaschen Bier nach draußen, setzte sich neben mich und reichte mir wortlos eine davon. Dass sie einfach bei mir war, ließ mich soviel besser fühlen, als es tausend Worte gekonnt hätten und das kühle Pils vertrieb zusätzlich meine trüben Gedanken.

Gegen dreiundzwanzig Uhr machten wir uns schließlich auf den Weg zum Strand. Vorher wären noch zu viele Menschen unterwegs gewesen, die nach dem Besuch in den diversen Restaurants noch einen Verdauungsspaziergang unternahmen, hatte mir Harry erklärt. Ich glaubte zwar nicht, dass nächtliches Baden im Meer verboten war, aber Zuschauer brauchte ich nun auch nicht unbedingt. Außerdem versuchte Harry noch immer, möglichst unsichtbar zu sein und sich nicht in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wenn er nun fröhlich planschend im Meer gesehen werden würde, empfänden das wohl viele Menschen aufgrund von Taylors Tod als pietätlos- auch wenn sie nicht wussten, wie sehr er unter der Situation litt und dass er diesen Moment der Ablenkung und Sorglosigkeit dringend benötigte.

Nur in T-Shirt und Badehose schlenderten wir also über die Promenade, welche zwar noch immer gut besucht, aber längst nicht mehr so überfüllt und laut war. Harry hatte einen Rucksack auf dem Rücken, in dem ein Badetuch und eine Flasche Weißwein steckten. Mehr benötigten wir für unseren Ausflug nicht.

Die Luft war ein paar Grad abgekühlt. Endlich. Tagsüber hatte man kaum atmen können, weil die Wärme so erdrückend gewesen war. Ich hatte Großbritannien noch nie so heiß erlebt, aber laut Wikipedia besaß Bournemouth Beach ein eigenes Mikroklima, das nicht vergleichbar war mit dem Rest des Landes. Der Klimawandel tat wahrscheinlich sein Übriges dazu.

Kurz bevor die Strandpromenade endete und dem schmaleren Weg zu den Dünen Platz machte, rief plötzlich jemand Harrys Namen. In der Tür einer kleinen Bar links von uns stand ein dunkelhäutiger junger Mann mit einem breiten Grinsen im Gesicht und diversen geflochtenen Zöpfen, die sich wild um seinen Kopf kringelten. Um seine Hüften hatte er eine schwarze Schürze mit dem Logo der Bar gebunden.

„Pauli!", rief Harry zurück und begann sich bereits durch die Tische und Stühle, die sich auf der Terrasse des Lokals befanden, zu schlängeln, als ihm offenbar wieder einfiel, dass er nicht alleine unterwegs war. Er stoppte abrupt und drehte sich zu mir. „Ich bin gleich wieder da, ja? Ich sag nur kurz hallo."

Roter SandWhere stories live. Discover now