Kapitel 1

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Die Zigarette hatte mir gut getan und mich etwas beruhigt. Ich beschloss, zurück ins Erdgeschoss zu gehen, um zu sehen, was der Rest meiner Familie so trieb - hatte ich sie doch einfach so am Auto stehen gelassen. Da sich meine Blase nach der langen Autofahrt bemerkbar machte, begab ich mich allerdings erst einmal auf die Suche nach dem gemeinsamen Badezimmer, das Harry erwähnt hatte. Wenn wir uns eins teilen sollten, konnte es ja nur in der Nähe unserer beider Zimmer sein und siehe da, als ich die Tür, die sich schräg gegenüber meiner Zimmertür befand, öffnete, fand ich mich direkt im richtigen Raum wieder.

Natürlich war auch das Badezimmer nicht vergleichbar mit unserem zu Hause in Doncaster. Die Fliesen waren edler, die Eckdusche wesentlich größer und die Armaturen wahrscheinlich von irgendeinem namhaften Designer. Während ich auf der Toilette saß, fiel mein Blick von den schneeweißen Hand- und Duschtüchern, die neben dem Waschbecken und der Dusche hingen, auf das Eckregal, das sich perfekt zwischen Fenster und Waschtisch einfügte. Die untere Hälfte der Fächer war freigeräumt - vermutlich für meine Sachen. Nicht dass ich auch nur ansatzweise so viele Pflegeprodukte besitzen würde, um diese zu befüllen, aber ich schätzte den guten Willen dahinter.

Die oberen Ablagen waren voller, als sie es wahrscheinlich sein sollten. Es war offensichtlich, dass Harry normalerweise auch die mir zugestandenen Fächer für sich nutzte und auch brauchte. Sobald ich meinen Kulturbeutel ausgeräumt hatte, würde ich ihm sagen, dass er zwei von drei Ablagen zurück haben konnte, da ich sie nicht benötigen würde.

Nach dem Händewaschen betrachtete ich Harrys Sammlung genauer. Ich erkannte diverse Parfum-Flakons, Cremes, Rasierwasser und Haarspray. Bei vielen Tuben und Tiegeln hatte ich jedoch absolut keinen Schimmer, was man mit deren Inhalt anfangen sollte.

Ich war einfach nicht dieser typische schwule Stereotyp, der sich für Mode und Lifestyle interessierte und länger im Bad brauchte als so manche Frau. Ich war nicht der schwule BFF von irgendeinem Mädchen. Im Grunde war ich eher der typische heterosexuelle Mann, der sich vor allem für Fußball und Parties interessierte, der gerne Bier trank und über flache Witze lachte. Der einzige Unterschied war, dass ich eben lieber mit Männern ins Bett ging.

Und das war auch so eine Sache, bei der ich wahrscheinlich nicht in das typische Klischee des queeren Mannes passte. Ich stand auf Kerle und zwar auf wirkliche Kerle. Wozu sollte ich schwul sein, wenn ich dann doch Männer bevorzugte, die aussahen und sich benahmen wie Frauen? Nichts gegen Hygiene und Pflegeprodukte, aber ich favorisierte Kerle, die auch aussahen wie Männer. Ecken, Kanten, Muskeln, Bart - das machte mich an. Das Tolle am Schwulsein war doch, dass man sich in der Rollenverteilung abwechseln konnte und nicht immer der starke, aktive Part sein musste.

Im Grunde wollte ich einen Mann, der tagsüber mein Kumpel war, mit dem ich im Stadion abhängen und mich volllaufen lassen konnte und mit dem ich mich nachts um den Verstand vögelte. Das sollte doch machbar sein.

Harry konnte ich zumindest bisher nicht einschätzen. Augenscheinlich legte er sehr viel mehr Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild als ich, aber das war, wie bereits erwähnt, auch nicht sonderlich schwer. Seine Klamotten waren außergewöhnlich, aber nicht unbedingt feminin. Seine Tattoos und sein Auftreten mir gegenüber waren alles andere als was ich als 'tuckig' beschreiben würde. Er war eher straight und bestimmt.

Die Sammlung hier im Badezimmer deutete allerdings darauf hin, dass er sich oft und viel mit Körperpflege und seinem Aussehen auseinandersetzte. Aber es sollte ja auch heterosexuelle Männer geben, denen es nicht egal war, wie sie aussahen.

Ein letzter Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich mich vielleicht mal wieder etwas mehr damit beschäftigen sollte, wie ich so rumlief. Man konnte mir sowohl die lange Autofahrt, als auch das frühe Aufstehen ansehen. Meine braunen Haare, die oben etwas länger und zum Ansatz bis auf wenige Millimeter kurz geschoren waren, standen in diverse Richtungen ab. Das kam eben davon, wenn man zu spät aufstand, in Stress geriet, noch schnell unter die Dusche sprang und dann mit feuchten Haaren im Auto weiterschlief. Dass ich am Abend zuvor mit meinen Jungs noch etwas trinken war, bewiesen die dunklen Ringe unter meinen Augen. Da konnten auch meine hellblauen Iriden, die im ausgeschlafenen Zustand deutlich mehr leuchtenden und im Allgemeinen als attraktiv galten, nichts mehr richten.

Roter SandWhere stories live. Discover now