KAPITEL SECHS

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DAS WETTER SPIEGELTE am folgenden Morgen die Gefühlswelt und trüben Gedanken von Taehyung passend wider. Die ganze Nacht hatten ihn unruhige Träume geplagt und Erinnerungen an Hoseok bestärkten seinen Kummer und Verlust. Er hätte gerne die Möglichkeit gehabt, seinen Bruder zu betrauern, aber dazu blieb ihm keine Zeit. Und dieses Verdrängen rächte sich nun damit, dass ihn böse Träume plagten, in denen sich Szenen, wie die Auspeitschung Hoseoks damals im Armeelager, immer und immer wieder in seine Träume schlichen und ihn den Horror jedes Mal aufs Neue durchleben ließen. Taehyung wusste nicht, wie oft er dies in der heutigen Nacht hatte mit ansehen müssen, aber es waren dutzende Male gewesen. Dutzende Male, in denen er Hoseoks grausame Schreie in seinem Kopf gehört hatte.

Er wachte vor den anderen auf, froh darüber, diesem Albtraum endlich zu entkommen, aber der Kummer hatte sich in seinem Herzen und Kopf eingenistet. Er lastete auf ihm, wie der dichte Nebel, der sich auf der Lichtung erstreckte und es Taehyung nicht möglich machte, weiter als einige Fuß weit zu schauen. Vila neben ihm schlief noch, die Decke bis unter ihr Kinn gezogen und Taehyung war es kaum möglich, mehr als ihre zerzausten dunklen Haare zu erspähen. Sein Blick wanderte weiter durch das Lager, von den Pferden entdeckte er kaum mehr als ihre verschwommenen Umrisse und Byunghoo erkannte er nur am Baum lehnend und Wache haltend, weil die Öllampe neben ihm ein kläglich kleines Licht spendete. Ansonsten war alles um sie herum grau und trüb, obwohl der Tag bereits angebrochen war. Vielleicht würde es bis zum Mittag so bleiben, dass die Sonne vollends hinter den dicken Wolken verborgen blieb und der Nebel sich wacker zwischen den Bäumen und Unterholz halten würde. Immerhin hatte der starke Regen aufgehört, aber Taehyungs Kleider und Decken fühlten sich noch feucht und klamm an. Er bezweifelte, dass etwas davon trocknen würde, wenn das Wetter so blieb.

Er atmete mehrmals tief ein, sog den Geruch des Regens und Waldes in sich auf und versuchte sein rasendes Herz, welches aufgrund der Albträume noch wild in seinem Brustkorb klopfte, zu beruhigen. Die Reise würde nicht gerade erfreulicher dadurch werden, dass ihn der Kummer um Hoseok belastete. Aber vielleicht war es gut, dass er nicht in Aratolén festsaß und die Trauer ausschließlich in Alkohol und der Gesellschaft hübscher Männer ertrank. Der Wein in seinem Weinschlauch war längst zu neige gegangen und war stattdessen nun mit Wasser befüllt, sodass er gar nicht nach Alkohol greifen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Und so wie er Yohan einschätzte, würden sie auch nicht allzu bald in einer Taverne rasten und die Gläser erheben.

Somit waren seine Gedanken klar und keineswegs berauscht, was in den vergangenen Monaten, gar Jahren seit seiner Ankunft in Kirin, nur selten der Fall gewesen war. Er stand auf und begann damit, seine Decke zusammenzurollen. Dann brach er ein Stück von dem Brotlaib ab, welchen Eunbin ihm eingepackt hatte und machte sich daran, Mirage langsam für die Weiterreise bereit zu machen, während er aß. Das grauweiße Fell der Stute war noch dunkel von der Nässe und Taehyung begann es trocken zu rubbeln, damit sich die Stute keine Wunden unter dem Sattel auf ihrer Weiterreise rieb. Während er das tat und dabei Mirages Kruppe kraulte, wanderte sein Blick zu Seojun, der mit dem Rücken in seine Richtung gewandt schlief. Taehyung wollte nicht weiter darüber nachdenken, was vergangene Nacht geschehen war. Ihm war es immer noch unangenehm, dass sein Onkel ihm nichts darüber erzählt hatte, dass Seojun bald sein Leibwächter werden würde und sein Verhalten gegenüber dem Soldaten. Was er nicht bereute, waren die Küsse, die er sich noch schal auf seinen Lippen nachklingend einbildete.

Als eine Krähe mit einem lauten Krähen in der Nähe aufstob, riss Taehyung seinen Blick von dem schlafenden Soldaten los und wandte seine Aufmerksamkeit stattdessen Mirage zu. Die Stute hatte Gefallen an dem Kraulen gefunden und ein leises Schnauben entkam ihren Nüstern, über die Taehyung nun sanft strich. Das Fell in ihrem Gesicht war schon fast vollends weiß, außer die dunkle Nüster und der Rest ihres Fells würde in naher Zukunft folgen, bis sie vollends zu einem Schimmel geworden war. Doch nun zierten ihren gräulichen Körper, vom Widerrist über den Bauch hin zur Kruppe, lediglich weiße Flecken. Taehyung liebte dieses Pferd. Mirage war mit ihm zusammen erwachsen geworden, als er sie kurz nach seiner Ankunft in Kirin von seinem Onkel geschenkt bekommen hatte, war Mirage noch ein schlaksiges Jungpferd mit dunklem Fell und unendlich vielen Flausen im Kopf gewesen, doch in den Jahren hatte sie sich zu einem stattlichen Reitpferd entwickelt, welches Taehyung genauso blind vertraute, wie er ihr.

Die Ritter der Krone ‒ Der neue Thron | ᵗᵃᵉᵏᵒᵒᵏWhere stories live. Discover now