8. Nora

17 3 0
                                    

Am Mittwochmorgen der folgenden Woche habe ich schon zwei Nachtdienste hinter mir, zwei weitere vor mir und die Aussicht auf anschließende sechs freie Tage am Stück. Beruhigt kann ich feststellen, dass das Arrangement von Tom und mir, Max und Buddy betreffend, aufgeht: Wenn ich morgens um sieben Uhr zu Hause ankomme, habe ich zehn Minuten Zeit, um mich mit meinem Jüngsten zu unterhalten und ihn zu verabschieden, anschließend fährt ihn Tom zur Schule, während ich dusche. Von unterwegs bringt er Brötchen mit, wir frühstücken gemeinsam und ja, haben Sex, denn die Sehnsucht nach einander ist groß, doch das schreiben wir schließlich nicht in den imaginären Tagesplan. Ich gehe anschließend schlafen, Tom dreht eine kleine Runde mit Buddy und macht sich dann für die Arbeit fertig.

Obwohl ich mir den Wecker auf zwölf Uhr stelle, um mit Buddy zu gehen, schlafe ich meist aus einer inneren Angst heraus, diesen zu überhören, nur bis halb zwölf Uhr. Erst einmal wach geworden, kann ich nicht einfach weiterschlafen, weshalb ich diese Zeit für kleinere Haushaltstätigkeiten und das Zubereiten des leichten Mittagessens für meine Männer nutze. Tom holt Max auf dem Weg zu seiner Mittagspause von der Schule ab, damit wir die gemeinsame Familienzeit ausdehnen, in Ruhe essen und Max uns beiden von seinem Schultag erzählen kann. Nach einer kurzen Dusche fährt mein Liebster anschließend wieder zu seinen Terminen und ich bin für meinen Sohn da, falls er Hilfe bei den Hausaufgaben braucht.

Gegen halb drei Uhr gehen wir mit Buddy ein Stück, danach mache ich einen Mittagsschlaf und Max spielt so lange in seinem Zimmer oder darf nach Absprache fernsehen. So kommen wir gut hin, bis Tom gegen sechs Uhr abends nach Hause kommt und wir gemeinsam zu Abend essen. Um sieben Uhr abends mache ich mich dann auf meinen Weg zur Arbeit, Tom bringt Max eine Stunde später ins Bett und wir telefonieren nochmal zu unserer gewohnten Zeit um halb zwölf Uhr. Ebenso hat uns Hilde ihre Hilfe angeboten, auf die ich ab und an zurückkommen werde. Doch möchte ich sie nicht zu sehr mit meinem neuen Leben in Anspruch nehmen, weil sie in der Vergangenheit schon so viel für uns getan hat, wofür ich ihr ewig dankbar sein werde.

Üblicherweise ist Mittwoch der Tag, an dem wir entweder telefonieren oder uns auf einen Kaffee treffen und ich beschließe, nach dem Rundgang mit Buddy bei Hilde vorbeizuschauen. Sie öffnet mir auf mein Klingeln hin die Tür, dicht gefolgt von Sir Henry, der sich gleich an den schwanzwedelnden Labrador schmiegt, was mir sprichwörtlich das Herz aufgehen lässt. Die beiden sind jedes Mal so süß.

Sie bittet mich herein und schließt die Wohnungstür schnell hinter uns, falls sich Sir Henry entschließt, wieder auf Wanderschaft zu gehen, doch der kuschelt noch immer mit Buddy. Aufmerksam mustert sie mich in ihrem dämmerigen Flur. »Hallo Liebes, komm doch rein! Toll siehst du aus. Tom tut dir absolut gut, das ist nicht zu übersehen, aber bekommst du auch genügend Schlaf?« Peinlich berührt von der vermeintlichen Anspielung erwärmen sich meine Wangen. Wie meint sie das jetzt? Ihr Schlafzimmer liegt doch unter dem von Max und wir sind schon seinetwegen sehr diskret. »Du wirst den Nachtdienst bestimmt auch nicht mehr so gut wegstecken wie früher, oder?«, fragt Hilde teilnahmsvoll nach. Ach so, denke ich erleichtert und die gestiegene Anspannung fällt in sich zusammen. »Ich habe doch immer gerne nachts gearbeitet und es sind insgesamt nur vier Nächte, dann habe ich sechs Tage am Stück frei. Zum Glück läuft es mit Max und Tom gut, deshalb habe ich den Kopf frei und muss mir keine Gedanken machen.« »Ja, sie verstehen sich sehr gut, das ist nicht zu übersehen. Tom hat echte Vater-Qualitäten. Aber komm doch erstmal ins Wohnzimmer durch und setz dich.«

Während ich ihrer Einladung folge, kann ich wieder einmal nur staunen. Wie macht sie das bloß? Immer genau ins Schwarze treffen? Immerhin lässt mich dieses Thema seit dem letzten Besuch bei Toms Eltern nicht mehr los. Wenn alle Bewohner mehr oder weniger schlafen und meine Arbeiten auf der Station, wie Tabletten stellen, Infusionen richten, Pflegewagen auffüllen und Umlagern erledigt sind, holen mich meine Gedanken ein. Zwar haben Tom und ich darüber geredet, aber ein Zweifel ist mir geblieben und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll. Die Bilder von Sonntag wollen mich nicht loslassen, egal was mein Liebster sagt.

»Entschuldige! Darf ich dir etwas anbieten?«, unterbricht Hilde meine Gedanken. »Ja, gerne. Ein Mineralwasser, bitte«, antworte ich und lächle sie dankbar an. Während sie in die Küche geht, sehe ich zu den beiden tierischen Freunden hin. Buddy liegt mittlerweile neben dem Sofa auf seiner Hundedecke, die Hilde extra für ihn dort platziert hat; Sir Henry liegt an seinen Bauch gekuschelt und beide scheinen zu dösen. Während Hilde mit einer Sprudel-Flasche und zwei Wassergläsern ins Wohnzimmer eintritt, zücke ich mein Handy und fotografiere die beiden, dann sende ich das Bild als eine ICQ-Nachricht mit dem Kommentar »Ich zähle die Stunden« an Tom. Als ich uns etwas eingieße, erscheint kurz darauf ein Bild von ihm, auf dem er sehnsüchtig in die Kamera sieht, unterschrieben mit »Vergehen sie schneller, wenn ich mitzähle?«, was mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert, denn er lässt mich immer gut fühlen.

»Tom?«, fragt Hilde neben mir. »Ja«, antworte ich fröhlich. »Nur er lässt dich so strahlen. Du hast wirklich verdient, so glücklich zu sein. Nach all den Jahren ...« Sie spricht nie schlecht über Arne oder meine Ehe, wofür ich ihr aufrichtig dankbar bin, betont aber immer wieder gerne, wie froh sie über die Beziehung von Tom und mir ist. »Wenn ich euch beide so sehe, muss ich immer an Berthold und mich denken. Was hatten wir damals für eine schöne Zeit ...«

In Erinnerungen schwelgend, lehnt sich Hilde mit einem verträumten Blick in ihrem Stuhl zurück. Kurz sieht sie unbestimmt in die Ferne, dann fokussiert sie sich langsam wieder auf mich: »Er ist mein erster Gedanke am Morgen und mein letzter Gedanke zur Nacht. Wir standen damals drei Monate vor unserer Hochzeit und hatten so viel vor ... Auch Kinder waren natürlich ein Thema. Allerdings haben wir uns damals alle viel langsamer angenähert, als es die jungen Leute heutzutage tun.«

Nachdenklich frage ich sie: »Meinst du, Tom würde das auch wollen? Also Kinder mit mir haben?« Hilde zieht mit fragendem Blick ihre Augenbrauen in die Höhe: »Solltest du das nicht viel besser beantworten können?« Seufzend beantworte ich ihre berechtigte Frage: »Er sagt nein, aber in mir bleibt ein Gefühl, dass ich ihm etwas vorenthalte.« »Das ist doch Blödsinn, Liebes!«, weist sie meinen Gedanken zurück. »Tom weiß, was er an dir hat. Außerdem bist du zum Kinderkriegen noch jung genug. Es fangen einige Frauen der Karriere wegen überhaupt erst in deinem Alter mit der Familienplanung an.« »Aber das ist es ja gerade: Ich würde gar kein weiteres Kind mit ihm wollen«, spreche ich den mich beherrschenden Gedanken das erste Mal laut aus. »Heutzutage muss man das doch auch gar nicht mehr«, antwortet Hilde sanft und zerstreut meine aufkeimende Befürchtung, mich ihr gegenüber rechtfertigen zu müssen. »Ich denke, du machst dir da zu viele Gedanken. Tom ist ein offener Mensch. Er würde dir immer seine ehrliche Meinung sagen, allerdings so charmant verpackt, dass du dich hinterher nie schlecht fühlen würdest. Und auf sein Wort ist Verlass!«

Ihr zustimmend, nicke ich: »Ich weiß. Aber auch er wird älter und könnte seine Meinung zu dem Thema ändern, gerade jetzt, wo Annika schwanger und Phil deswegen völlig aus dem Häuschen ist.« »Dann sprich nochmal mit ihm. Anders werdet ihr das Thema nicht beilegen können«, ermutigt sie mich.

»Ja, du hast völlig recht«, stimme ich ihr zu und stehe von meinem Stuhl auf, um nach oben zu gehen. »Max und Tom kommen gleich nach Hause und ich sollte etwas zum Mittagessen vorbereiten. Das Wochenende habe ich frei und Max ist bei Arne, vielleicht habt ihr, du und Mama, Lust, zum Kaffee zu uns zu kommen?« Hilde antwortet nicht auf meinen Vorschlag, sondern erkundigt sich teilnahmsvoll: »Wie läuft es denn inzwischen mit ihm?« Abwinkend antworte ich: »Du kennst ihn doch. Er hält sich an seine getroffenen Absprachen, aber stichelt nach wie vor, wenn sich die Gelegenheit ergibt.« Hilde lächelt daraufhin milde: »Auf seine eigentümliche Weise liebt er dich, Nora. Eine andere Frau nach dir könnte es da schwer haben.« »Das hätte er sich aber vorher überlegen sollen«, erwidere ich nachdrücklich und sie betrachtet mich wohlwollend: »Ich weiß nicht, ob es nicht trotzdem zu eurer Trennung gekommen wäre. Tom ist schon ein sehr beeindruckender, junger Mann.« Sie überlegt kurz, bevor sie vorschlägt: »Weißt du was, lass uns lieber unter der Woche zum Kaffeetrinken verabreden. Tom freut sich bestimmt auf ein kinderfreies Wochenende mit dir und vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit, nochmal das Thema Kinder anzusprechen.«

»Okay ...«, antworte ich nachdenklich und wir sehen beide gleichzeitig zu Buddy und Sir Henry, die sich nicht von ihrem Platz wegbewegt haben. »Lass Buddy ruhig hier und schicke mir Max nach seinen Hausaufgaben runter, dann kannst du dich nachher nochmal hinlegen«, bietet sie mir an. »Aber ruhe dich wirklich aus und versuche, nicht zu viel nachzudenken, Liebes.« »Danke, Hilde. Für den Kaffee, dein offenes Ohr und deine Hilfe.« »Das mache ich doch gern«, winkt sie lächelnd ab und ich bekräftige: »Das weiß ich. Und dafür danke ich dir ganz besonders.«

Ich verabschiede mich von ihr, gehe in unsere Wohnung hoch und bereite das Mittagessen zu. Dabei beschließe ich, nach meinem Nachtdienst einmal mit Annika über das Thema zu sprechen.

Liebe findet ihren Weg 2Where stories live. Discover now