Kapitel 35

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Melodie
„Ich muss gehen“ sprach ich atemlos.

An Matheus Miene konnte ich entdecken, dass er es bereute mir gesagt zu haben.

„Du wirst nicht gehen“, entgegnete der Dunkelhaarige bestimmt und legte unterstützend seine Hand an meine Taille.

„Wir würden dich nie wieder sehen.“

Er hatte erkannt, dass ich nicht vorhatte, Luiz mit mir zu nehmen, egal wie sehr es auch schmerzen mochte. Doch ich wollte all das nicht für ihn. Keine solche Welt.

„Melodie, nein!“, erwiderte er nun um einiges kräftiger.

„Du wirst hier bleiben, hast du verstanden?“

Für einen kurzen Augenblick flammte sein vergangenes Ich auf. Dominant und selbstsüchtig. Zu instabil, dass ich ihm glauben könnte.

„Was soll ich denn sonst tun, Matheus?“

Sein Mund war vor Schreck geöffnet. Wahrscheinlich hätte er nicht mit einem solchen Temperament gerechnet, das ihm gerade entgegensprang.

„Soll ich es riskieren, dass sie meine Mutter und meine Schwester töten?“

Ich wusste nicht, wie weit sie gehen würden, denn sie waren schon weiter gegangen, als ich je annahm. Der Dunkelhaarige umfasste meine Arme, als wolle er mich sogleich irgendwo festbinden, damit ich nichts Dummes tat.

„Nein, natürlich nicht.“

Mein Gegenüber seufzte vor Verzweiflung, die Lippen zu einer Linie aufeinandergepresst.

„Dann musst du mich gehen lassen.“

„Nein.“

Sein Schrei war so laut, er vermochte sogar Luiz zu wecken. Mit großen Augen starrte ich hinauf zu dem Mann, der außer sich vor Wut war.

„Ich ließ dich einmal gehen und sah dich drei Jahre lang nicht. Ein zweites Mal werde ich es nicht dazu kommen lassen.“

Die Trauer in seinem Herzen begann mich förmlich anzubetteln. Der Mann vor mir hielt einen Moment inne und meine Erwiderung blieb aus vor lauter Leidenschaft, die mich überrollte.

„Wir werden alle gehen. Wir alle, als Familie.“

„Sie werden dich töten“, stieß ich flüsternd aus.

„Nicht, wenn Luiz mit dabei ist.“

Vehement schüttelte ich den Kopf.

„Das ist zu gefährlich.“

„Es ist auch zu gefährlich für dich.“

Seine Hand setzte sich liebevoll an meinen Nacken.

„Sie werden mir nichts tun“, hauchte ich ausdauernd in die Welt hinaus.

„Das weißt du nicht und außerdem haben sie das längst.“

Ich dachte an Tony, seine Forderung, die ständige Qual, nicht das Leben zu leben, das ich führen wollte.

„Dieses Risiko bezahle ich gern, solange ich weiß, dass es euch gut geht.“

„Woher willst du das wissen?“

Mein Kiefer presste sich stark aufeinander. Ich konnte es nicht wissen.

„Was, wenn sie Luiz und mich finden werden und du nicht da bist, um ihre Launen zu besänftigen.“

Scharf zog ich die Luft ein, denn ich begriff, dass Matheus recht hatte. Wir werden gehen müssen, wir alle, als Familie. Wie von allein klammerte ich mich an den Dunkelhaarigen.

„Ich will all das nicht“, brachte ich weinerlich hervor.

Der Dunkelhaarige setzte seine Hand behutsam auf meinen Schopf, fuhr das ein oder andere Mal darüber.

„Ich weiß.“

***

Voller Verunsicherung hatten wir uns in das Auto gesetzt, unfähig zu begreifen, ob wir gerade den Fehler unseres Lebens begingen.

„Willst du etwas trinken, Luiz?“

Unser Sohn schüttelte lediglich den Kopf. Seit gestern Abend vermied er es, mit Matheus auch nur ein Wort zu wechseln. Noch immer schwebte das Bild vor seinem inneren Auge, wie der Dunkelhaarige über diesem leblosen Mann lehnte. Immer wieder habe ich ihm versichert, dass Matheus nicht der Schuldige war, doch die Furcht war dennoch ein Teil von ihm. Mein Gegenüber seufzte auf.

„Mama? Wo fahren wir hin?“

„Wir … wir …“

Ich war mir unsicher, was ich sagen sollte. Es war mitnichten ein schöner Ausflug in die Vergangenheit.

„Wir werden deinem alten Zuhause ein Besuch abstatten.“

Der Junge an meiner Seite machte jetzt große Augen.

„Werden wir Papa wiedersehen?“

Ich strich jetzt hilflos über seinen Schopf.

„Ja mein Schatz.“

Er merkte sofort, wie missmutig ich diesem Ereignis gegenüberstand und so verrutschte sein kleines Lächeln.
Die restliche Fahrt über sagte keiner von uns auch nur ein weiteres Wort. Der Gedanke, sogleich freiwillig in die Hölle zu gehen, nagte an uns. Mit Abscheu starrte ich schlussendlich dem riesigen Anwesen entgegen, das einst mein Gefängnis war und das ich für eine kurze Zeit verlassen konnte. Ich wünschte nur, ich hätte nie hierher zurückkehren müssen. Mit entschlossenem Geist stieß ich die Tür auf. Kaum hatte ich das getan, legten sich Matheus starke Arme um mich. Immer wieder setzte er einen verzweifelten Kuss auf mein Haar. Das hier würde womöglich unser Abschied sein. Seine großen Hände ließen sich an meine Wangen nieder. Wir verloren uns in den Augen des Anderen. Aussichtslos begann sich Matheus Kiefer anzuspannen.

„Wir werden das überleben.“

Ich nickte in der Hoffnung, dass er Recht behielt. Ein letzter Kuss auf meine Stirn, bevor ich Luiz aus dem Auto nahm. Er wagte es nicht, auch nur ein Wort zu sagen, während wir den altbekannten Weg entlang schritten. Nirgends waren Wachen. Warum auch? Schließlich hatten sie uns in der Hand. Die Waffe gezogen öffnete Matheus unbehaglich die Tür, darauf gefasst, dass alles Mögliche geschehen könnte. Wir blickten dem Eingangsbereich entgegen, der letztlich im Wohnzimmer mündete. Doch am Ende meines Sehfeldes entdeckte ich meine Mutter und meiner Schwester. Unüberlegt rannte ich los, egal, wie oft mich der Dunkelhaarige mahnte stehen zu bleiben.

MatheusWhere stories live. Discover now