Kapitel 36

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Drei Jahre hatte ich sie nicht gesehen. Meine Mutter sah gesund aus, abgesehen davon, dass sie an einen Stuhl gefesselt war und meine kleine Schwester Ariel war nun viel älter als damals.

„Mama! Ariel!“

Ich murmelte ihre Namen immer wieder und wieder, während ihr heißeres Summen ertönte. Eilig bückte ich mich zu ihnen hinab und half ihnen, den Knebel loszuwerden.

„Flieh Melodie, flieh!“ entkam es meiner Mutter noch, bevor mein Vater aus der Dunkelheit heraustrat. Wie von allein rückte ich ein paar Schritte zurück. Er hatte dieses furchtbare Grinsen aufgesetzt, als wäre ich genau in seine Falle getappt. Passend dazu tauchte Tony hinter mir auf. In seiner Hand eine Waffe, die er geradewegs auf Matheus und Luiz richtete.

„Wie du siehst, meine Tochter, so solltet ihr euch ergeben. Wenn du schön brav bist, werde ich davon absehen, die beiden hier zu töten.“

Passend dazu legte er seine Hände auf die Stühle meine Mutter und meiner Schwester. Ich wusste nicht, woher die brechende Zuversicht kam, doch ich richtete mich auf und straffte meine Schultern.

„Nein.“

„Nein?“

„Nein.“

Es war ein Wort, das ich schon viel früher für mich hätte entdecken sollen. Ich werde mich nicht mehr der Gewalt anderer ergeben.

„Wenn du das tust, wirst du mich auf ewig verlieren.“

Die Lippen meines Vaters waren zu einer Linie verzogen.

„Melodie, bitte lass uns zurück“ entfuhr es meiner Mutter.

„Den Teufel werde ich tun. Drei Jahre habe ich euch nicht gesehen. Ich bin nicht gewillt, drei weitere verstreichen zu lassen.“

Im Hintergrund ertönte jetzt der zweite Krieg.

„Gib mir Luiz zurück!“, forderte Tony.

Im Augenwinkel bekam ich mit, wie dieser nach unserem Sohn schnappen wollte, doch Matheus stellte sich davor. Keinen halben Meter von der Waffe entfernt, der er nun schutzlos ausgeliefert war.

„Du bekommst meinen Sohn nicht.“

Der Raum wurde von einer niederschmetternden Stille heimgesucht. Tonys Sicht schwankte immer wieder von Luiz zu Matheus und jetzt, da er damit konfrontiert wurde, fiel auch ihm die Ähnlichkeit auf. Ich nutzte die Regungslosigkeit aller, um meine Mutter und meine Schwester loszubinden.

„Beeilt euch“, murmelte ich den beiden entgegen, die sich rasch an die Seite von Matheus stahlen. Die Situation war noch immer heikel, doch soeben war zum Glück nur ich es, die wahrhaftig in Gefahr schwebte. Tonys Blick hatte furchterregende Züge angenommen. Es war ein unberechenbares Bild. Mit einem Mal kam er auf mich zu. Ich konnte noch erkennen, wie Matheus gewillt war ihn aufzuhalten, doch vor lauter Angst hatte sich Luiz an sein Bein geklammert. Er schlang einen Arm um mich und führte seine Waffe an meine Schläfe. Angst sollte mich befallen, jetzt, wo ich dem Tod entgegensah.

„Melodie!“, schrie Matheus lauthals, doch das brachte Tony nur dazu, seinen Griff zu verfestigen.

„Ich werde Melodie jetzt mit mir nehmen.“

Er hatte nie vor, mich umzubringen. Im Gegenteil. Er hielt noch immer an mir fest.

„Und niemand wird mich aufhalten, sonst wird sie es zu spüren bekommen.“

Jetzt fürchtete ich mich doch, denn die Aussicht auf den Tod war um einiges beruhigender, als wieder unter seiner Gewalt zu stehen. Hilflos sahen alle dabei zu, wie mich Tony zum Hinterausgang zerrte. Selbst mein Vater hatte jetzt ein beunruhigtes Gesicht aufgelegt. Ein dumpfes Geräusch erklang. Keine Sekunde später verschwand die Enge um meinen Körper und der Mann, der mir gerade noch eine Waffe an den Kopf hielt, stürzte zu Boden.

MatheusWhere stories live. Discover now