Kapitel 1

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Unter Hektik suchte ich den Haustürschlüssel. Ich war spät dran, doch ich konnte es mir nicht leisten, gefeuert zu werden.

„Mum, weißt du, wo mein Schlüssel ist?"

„Nein Liebes, frag lieber Ariel."

Etwas streng sah ich zu dem Kind, dass gerade wild in der kleinen Wohnung herumhüpfte. Später müsste ich all das aufräumen. Erschwert seufzte ich auf.

„Ariel?", gab ich ernst von mir. Ihre Augen verrieten mir, dass sie ihn hatte, doch statt ihn mir zu geben, rannte sie davon. Zeitdruck und Frustration rasten durch meine Adern und auch ein gutes bisschen Wut.
„Ariel" wiederholte ich mich.

„Wenn ich zu spät zur Arbeit komme, dann werde ich gefeuert und dann gibt es heute kein Abendessen."

Die Achtjährige schien zu überlegen. Was gab es da zu überlegen? Mein Gehalt war das Einzige, dass diese Familie am Leben hielt.

„Jetzt gib ihr schon den Schlüssel", raunte meine Mutter erschöpft. Sie war krank, wirklich krank und ich legte alles zur Seite, damit wir ihre Medikamente bezahlen konnten. Auch das Geld der ganzen Extraschichten. Besonders das Geld der ganzen Extraschichten. Ariel kam auf mich zu gehüpft, mit diesem unschuldigen Lächeln. Wie sollte man da böse sein? Ich bückte mich hinab, nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und setzte einen Kuss auf die Wange des kleinen Mädchens.

„Komm schnell zurück", murmelte sie.
Ich kam nie schnell zurück. Wenn ich das Haus verließ, war ich Stunden weg. Als ich mich wieder erhob, legten sich die Arme meiner Mutter um mich.

„Einen schönen Tag, mein Liebling."

Ich nickte nur, auch wenn es mir vor Augen führte, warum ich tagtäglich aufstand. Ich wendete den beiden den Rücken zu und verließ die kleine schäbige Wohnung, die wir unser Zuhause tauften. Während ich so die Treppen hinab trabte, dachte ich an die Zeiten, die besser waren. An die Zeiten, als mein Vater noch da war. Er hatte eine gute Arbeit, doch als ich zehn war, starb er. Noch immer klaffte das Loch in meinem Herzen, das er hinterlassen hatte. Meine Mutter, hochschwanger mit meiner Schwester, musste dann seine Arbeit übernehmen und als sie dann fünf Jahre später krank wurde, lag es an meinem fünfzehnjährigen Ich unsere Familie zu versorgen. Gerade flog meine Sicht über das Land Brasiliens. Es war ein schönes Land, doch es war auch verantwortlich für meine Lage. Ich hasste den Weg zu meiner Arbeit, denn ich hasste meine Arbeit, doch es war gute Arbeit. Die beste, die ich je hatte, also konnte ich sie nicht verlieren. Als meine Mutter krank wurde, musste ich die Schule abbrechen. Ich hatte keine Zeit mehr dafür. Ich musste Geld verdienen. Meine Augen huschten zu den ganzen armen Familien, die gerade im Schutze der Dunkelheit kampierten. Es besann mich daran, dass wir es besser hatten, als viele anderen. Wir besaßen eine Wohnung und Essen und all das nur wegen des Jobs, den ich hasste. Ich hasste meine Leben, ich hasste diesen Weg, ich hasste, dass alles so schwer war. Als ich durch die Schwingtür des Restaurants trat, setzte ich eine Mauer zwischen all den Frust und mir. Je freundlicher ich war, desto mehr Trinkgeld bekam ich und dementsprechend wurde es immer weniger, je weiter der Tag voranschritt.

„Du bist eine Minute zu spät."

Der Restaurantbesitzer hatte sich vor mir aufgestellt und je näher er an mich heranrückte, desto demütiger senkte ich den Blick. Das Restaurant war leer. Durch meine Unpünktlichkeit war kein Verlust entstanden und doch würde er mich bestrafen. Er stand darauf, Menschen, die unter ihm waren, zu schikanieren. Ein furchtbarer Kerl.

„Du bleibst heute eine Stunde länger. Unbezahlt versteht sich, außer du willst etwas erwidern."

Ich würde nichts sagen, denn dann würde er mich feuern und hinter mir waren Hunderte andere, die diese Stelle besetzen könnten.

MatheusWhere stories live. Discover now