PROLOG

142 22 9
                                    

Second star to the right and straight on 'til morning."

Autor: Sir James Matthew Barrie (1860 - 1937)


Ein Hauch aus Nebel legte einen wabernden, grauweißen Schleier über das schlagende Herz Englands. Ein leises Säuseln rauschte über die Giebel und Ziegeldächer Londons hinfort, flüsterte durch Ritzen und Löcher in den Häusern, tastete durch Schornsteine und kitzelte dort die warmen Flammen kleiner und größerer Feuer in den Kaminen. Schon lange waren die vielen Fenster verschlossen und die flackernden Lichter dahinter gelöscht worden, sodass die pulsierende Stille später Nachtstunden Einzug halten konnte. Doch... das galt nicht für alle.


Ein Kind hob seinen Blick in den Himmel. Es war ein kleiner Bursche mit hellbraunen Locken, die ihm in wüsten Kringeln um das pausbäckige Gesichtchen lagen. Müde legte er die Arme auf das Fenstersims und stütze sein Kinn auf die Handinnenflächen. Von draußen wehte ein kühler Nachtwind in das spärlich eingerichtete Zimmer, bewegte die löchrigen Vorhänge wie geisterhafte Schemen und streichelte beruhigend über die kleine Nase des schläfrigen Kindes. Doch es ließ sich nicht ablenken, sondern schaute unbeirrt zum Himmelszelt empor.


Von dort schimmerte ihm ein Meer aus kleinen Lichtern entgegen, als hätte ein Künstler tausende Diamanten auf nachtfarbenem Samt verstreut. Wenn er die Augen schloss und angestrengt in die Stille lauschte - so hatte seine Mutter es ihm stets in ihrer sanften Stimme gesagt - konnte man manchmal das leise Flüstern und sogar das Funkeln hören, mit dem der Sternenstaub vom Firmament herabrieselte und seinen mondlichtgetränkten Glanz auf die erschöpften Kinderaugen strich. Hin und wieder, an besonderen Tagen - so wie heute - leuchteten zwei Sterne ganz besonders hell, strahlten um die Wette und amüsierten sich prächtig dort oben, wo sie das emsige Geschehen weit unter sich mit ansehen konnten.


Der Junge zwinkerte gegen den Schlaf an, doch letztendlich obsiegte die Müdigkeit und es fielen ihm die Augen zu. Es dauerte ein paar Minuten, in denen ihm das kleine Gesicht durch die Hände rutschte und er müde auf das Fensterbrett sank. Doch nur wenig später weckte ihn derselbe Nachtwind, dem er schon die ganze Zeit Gesellschaft leistete. Ein wenig verwirrt öffneten sich die klaren Augen, blinzelten und langsam schüttelte er den Kopf.


Sein Blick suchte den Nachthimmel ab, tastete über das blaue Band das ihm so gut bekannt war, weil er es jeden Abend betrachtete. Aber... waren dort nicht eben noch zwei Sterne gewesen?


Angestrengt fixierte der Junge den Himmel und suchte ihn ab, bis er nicht mehr sicher war, ob er nicht vielleicht doch schon geträumt hatte. Ein helles Seufzen war zu hören, bevor das Fenster leise zugedrückt wurde und kleine Kinderhände den Riegel mühevoll vorschoben. Verräterisch knautschte eine dünne Matratze unter dem bisschen Gewicht, während der Junge seine Bettdecke bis zur Nasenspitze hochzog und sich in die fleckigen Kissen mummelte. Um ihn herum hörte er die beruhigenden Atemzüge der anderen Waisenkinder. Murmeln, Seufzen, grummeliges Schnarchen. Es dauerte nicht lange, da fielen ihm die erschöpften Augen zu und wie alle anderen Kinder, sank auch der Junge in einen festen Schlaf.


Der Nachtwind spähte noch eine Weile durch die Fenster, zupfte lautlos an den Dachziegeln und säuselte gegen die Glasscheibe... doch kein Kind öffnete ihm auf sein Bitten oder lauschte weiter den Geschichten, die er zu erzählen hatte. So strich er ruhelos weiter, trieb über die nächtliche Stadt, spielte mit ein paar Blättern und streichelte den murmelnden Fluss der Themse, die sich nicht an der späten Stunde störte.

A Neverland Tale - HOOKED (de)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt