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Der Abend näherte sich schneller als erwartet. Noch immer fühlte ich mich wie in einem Traum. Einerseits freute ich mich über alles und anderseits würde ich am liebsten nur schreien um den Schmerz in mir loszuwerden. Immer wieder ertappte ich mich dabei, einen Blick auf den Artikel zu werfen, in der Hoffnung das sich etwas geändert hat. Das waren jedoch nur belanglose Vorstellungen mit dem letzten Funken Hoffnung. Das Verhalten der letzten Tage, dann das er sich nicht meldet und jetzt das? Hatte er seinen Tod etwa geplant? Nein, er hätte keinen Grund dazu gehabt. Ich wusste das er sich auf unser Kind freute.
Behutsam legte ich Aydan in sein kleines Bettchen. Jetzt wo ein Baby darin lag erkannte ich, dass es dem Bettchen meines Bruders und meiner Schwester ähnelte.

Zärtlich strich ich meinem Sohn über sein Köpfchen. Er war so klein und zerbrechlich. „Ich wünschte du hättest heute deinen Vater kennenlernen können." Schmerzhaft erinnerte ich mich daran, wie Gellert und ich diskutierten welches Geschlecht unser Kind haben würde. Ich habe erwartet das es ein Junge wird, während Gellert meinte es sei ihm egal. Eines Tages meinte er, ein Mädchen mit sanften Locken und meiner Haarfarbe wäre toll. Insgeheim wusste er wahrscheinlich schon, dass es ein Junge werden würde, dennoch hat er das Spiel mitgespielt. Vermutlich wollte er mich besänftigen und mir klar machen, dass er auch mit einem Mädchen kein Problem hätte. Mit meiner Schwester kam er immerhin auch hervorragend klar. Die beiden sahen zusammen wirklich glücklich aus. Gellert hat es geschafft, ihr Lächeln zurück zu bringen. Ariana hat Gellert abgöttisch geliebt. Was sie wohl zu unserem Kind sagen würde?

Seufzend kehrte ich in die Realität zurück. Stuart brachte mir noch ein paar Kleinigkeiten vorbei, von Kuscheltieren bis hin zu Decken. Wahrscheinlich war er doch nicht so schlecht wie ich es mir immer ausgemalt habe. Nein, das war er gewiss nicht. Ein schlechter Mensch hätte einem Fremden wie mir nicht so oft geholfen. Irgendwann sollte ich ihm dafür danken. Irgendwann, wenn sich alles beruhigt hatte.
„Egal was stimmt und was nicht, dein Vater liebt dich. Das weiß ich. Er würde die ganze Welt bekämpfen wenn es sein muss nur um dich zu beschützen." Es fiel mir nicht leicht diese Worte auszusprechen. Von Gellert zu sprechen als würde er nicht mehr existieren, das sollte mir nicht über die Lippen gehen. Alles in mir sträubte sich dagegen. Das Schlimme war: Ich spürte ihn. Ich konnte ihn noch immer in mir spüren, diese Verbindung die wir hatten. Aus diesem Grund wollte ich partout nicht akzeptieren, dass er nie mehr zurück kommen würde.

Mühsam schluckte ich den Kloß in meinem Hals runter. Aydan ist bereits eingeschlafen. Er sah so friedlich aus... Ich beneide ihn darum. Von all dem nichts mitzubekommen wäre mein größtes Glück. Schwach lächelnd beugte ich mich zu ihm runter und küsste seine Stirn. „Ich liebe dich, mein Engel."
Zum ersten Mal seit Durmstrang öffnete ich eine Schublade neben meinem Bett. In ihr lag eine kleine Schatulle. Mit zittrigen Händen nahm ich sie heraus und öffnete sie. In ihr lagen zwei identische Ketten. Ich weiß nicht was ich erwartet habe, aber die zwei Ketten sahen aus wie immer. Die Blutstropfen tanzten noch immer unbekümmert umeinander, als würden sie fangen spielen. Es fühlte sich an, als würden zwei Herzen im selben Takt schlagen.

Ich wusste nicht wie man einen Blutpakt brach, jedoch habe ich immer vermutet, dass der Tod sie brechen würde. Die Ketten hatten sich aber kein bisschen verändert. Sie waren noch immer so einzigartig wie all die Jahre zuvor. Ehrfürchtig nahm ich eine der zwei Ketten aus der Schatulle. Gellerts Kette. Nachdem ich so viele Jahre versucht habe diese Ketten zu zerstören, waren sie jetzt alles was ich von diesem Bund hatte. Meine Güte war ich ein Heuchler.
Liebevoll strich ich mit dem Daumen über das kalte Material. „Ich weiß das du noch da bist." Tränen sammelten sich in meinen Augen. „Versprich mir das du noch da bist..." Zum Ende hin brach meine Stimme. Er musste einfach noch da sein, irgendwo da draußen.

Damit legte ich die Ketten zurück an ihren Platz. Den Artikel des Tagespropheten hatte ich verbrannt. Ich wollte diese schadenfrohen Worte nicht täglich lesen müssen. Sollte die Zaubererwelt doch feiern wie sie wollten, das ging mich nichts an.

*

Der nächste Tag begann unglaublich früh. Viel zu früh. Aydan weinte wie verrückt, also erhob ich mich so verschlafen wie ich war aus meinem Bett und kümmerte mich um den kleinen Racker. Beim vorbeigehen an einem der Spiegel durfte ich feststellen, dass ich noch beschissener aussah als ich mich fühlte. Eine Inferi sah noch taufrisch aus im Vergleich zu mir. Mittlerweile war ich an dem Punkt angekommen, dass es mir egal war. Für wen sollte ich aussehen als ob es mir gut ging? Meinen Sohn? Ihn störte es nicht wie ich aussah, dafür war er noch zu klein. Auch von meinem Schmerz wollte er nichts wissen, was auch gut so war. Alles andere wäre schrecklich.
Nachdem Aydan versorgt war, bereitete ich mir einen Tee in der Küche vor. Ein morgendlicher Tee...irgendwie ist das zu einem Ritual geworden.

Glücklicherweise bekam ich den Tee runter. Sobald ich nur an Essen dachte, schnürte sich mein Hals und Magen zusammen. Der Appetit war mir redlich vergangen.
Kurz nach der Tasse Tee schickte ich eine Eule an Stuart ab. Gewiss hatte er viel zu tun, jetzt wo Gellert tot war, doch wollte ich ihn wissen lassen, dass ich die nächsten Tage keinen Besuch haben möchte. Ich brauchte nach der anstrengenden Zeit Ruhe und Zweisamkeit mit meinem Sohn. Besucher würden mir nur auf die Nerven gehen. Das konnte ich im Moment nicht ertragen.
Gab es sonst jemanden den ich informieren müsste? Nein, eigentlich nicht. Ich hatte nur Gellert und Stuart. Klar, es gab noch Bathilda, aber sie würde hier nicht auftauchen.

Wieder wurde mir bewusst, wie alleine ich war. Meine gute Freundin wusste nichts von all dem und mit meinem besten Freund hatte ich seit Jahren keinen Kontakt. Wahrscheinlich war Elphias irgendwo in Afrika. Wie sehr ich ihn darum beneidete.

Alles hätte anders sein können, wäre ich damals mit ihm gegangen, wie ich es ihm versprochen hatte. Unglaublich wie lange das her war... Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Wie ein anderes Leben.

When History Is Rewritten.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt