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Kleine Info vorneweg:
Morgen und übermorgen werde ich jeweils ein weiteres Kapitel hochladen, damit die Spannung aufrecht erhalten bleibt, und ihr nicht so lange warten müsst.
Am Dienstag bzw. Freitag geht es dann wie gewohnt weiter.

Aber jetzt erst einmal viel Spaß!
-V

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Fallons P.o.V.

Ich verzog mein Gesicht qualvoll als ich mich auch nur ein kleines Stück bewegte. Mein Kopf brummte höllisch – kein Wunder, immerhin war der Schlag auf den Hinterkopf kräftig genug, um mich bewusstlos zu machen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand, ich hatte auch keine Ahnung, wer mich angegriffen und entführt hatte. Das Einzige, was ich jedoch wusste, war, dass es definitiv nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Langsam öffnete ich meine Augen, doch das grelle Licht war so blendend, dass ich sie sofort wieder schloss. Tief atmete ich durch, dadurch dröhnten diese Kopfschmerzen nur noch mehr. Vorsichtig öffnete ich meine Lider ein wenig, bis ich mich schließlich ganz an die Helligkeit gewöhnen konnte. Mein Blick schweifte durch den gesamten Raum, der gerade einmal drei mal drei Meter breit sein durfte. Die Wände waren aus robustem Beton und erzeugten damit einen beengenden Eindruck. Eine Tür links von mir erstreckte sich über eine dieser Wände, ein riesiges Fenster, das Einblick in das Nachbarzimmer gab, stand mir gegenüber.
Mit einem Mal schoss in mir die Angst hoch, weil ich zum ersten Mal begriff, dass sich das alles nicht um ein Spiel oder eine Übung handelte, sondern um eine echte Entführung. Ich war vollkommen auf mich allein gestellt, auch weil niemand vermutlich von dieser Kidnapperei wusste. Zum ersten Mal wäre es tatsächlich sinnvoll gewesen, auf meinen Vater zu hören, und mich nicht gegen seine Entscheidungen zu wenden. Ich hätte in diesem Moment vermutlich friedlich in meinem Bett liegen und vor mich hin träumen können ... naja, mit Sicherheit hätte ich diese Nacht kein Auge mehr zubekommen können, nachdem ich von dem Tod meiner Ex-Affäre geträumt hatte. Ich hielt die Luft an. Ob Cayden auch entführt wurde? Womöglich von denselben Männern? Ob er auch hier festgehalten wurde? Immerhin klang es in seinem Anruf so, als wäre genau das passiert.
Mein Herzschlag verdoppelte sich bei diesem Gedanken. Was, wenn ihm etwas passiert war? Was, wenn ihm etwas angetan wurde?
Ich versuchte meine Hände von den Kabelbindern zu befreien, die um den Stuhl angebracht wurden, doch je mehr ich mich dagegen wehrte, desto mehr fraß sich das harte Plastik in meine Haut. Ich warf einen Blick nach hinten, um zu sehen, ob es irgendetwas scharfkantiges gab, mit dem ich die Kabelbinder auftrennen konnte, und tatsächlich wurde eine rostige Schraube nicht richtig eingedreht. Meinen Körper drehte ich in die richtige Position, dann begann ich die zusammengebundenen Handgelenke an der alten Schraube zu reiben.
Plötzlich konnte ich hinter der Tür Stimmen hören, die mich innehalten ließen. Schnell setzte ich mich wieder normal hin und senkte den Kopf, doch ich konnte es nicht lassen, meine Augen von der Metalltür zu nehmen. In meinem Kopf rasten tausende Gedanken hin und her, die sich alle mit der Frage beschäftigten, wer mich entführt hatte. Es lag immerhin nicht besonders fern, dass ich die nächste Cunnigham war, der es nach Edwart und Cory an den Kragen ging. Außerdem hatte Cayden den Mörder angeblich enttarnt, doch bevor er mich warnen konnte, wurde er selbst ein Opfer der Entführung – zumindest hoffte ich inständig, dass es lediglich bei einer Entführung blieb. Mit allem anderen würde ich mit Sicherheit momentan oder möglicherweise niemals zurechtkommen.
Ich hörte, wie der Schlüssel in das Schloss gesteckt und aufgedreht wurde.
Meine Kehle war staubtrocken. So darf ich dem Mörder von Cory und Edwart nicht entgegentreten, so darf ich meinem eigenen Killer nicht entgegentreten.
Ich hob den Kopf und legte die Schultern nach hinten. Es sollte immerhin wirken, dass ich trotz dieser aussichtslosen Lage noch selbstbewusst sein konnte – auch wenn ich im Inneren Todesangst verspürte.
Die Tür ging mit einem quietschenden Ton auf und dann sah ich dem Augenpaar entgegen, von dem ich es am wenigsten erwartet hätte, hier anzutreffen. Das Augenpaar, dem ich mit am meisten vertraute. Das Augenpaar, das für mich tatsächlich Familie bedeutete. Onkel Jacks.
Seine Mimik wirkte erschrocken, als er mich erblickte. Ich war zu sprachlos, um auch nur einen einzigen Ton von mir zu geben. Ich wusste nicht, was ich denken sollte, denn mit einem Mal war all das Chaos in meinem Kopf verschwunden und es herrschte nur noch eine einsame Leere.
„Fallon", hauchte er mitfühlend, bevor seine Augen erneut über meine angespannte Haltung wanderten. Sein Kopf drehte sich nach hinten zu den Männern um, die ihn begleiteten. „Was steht ihr hier noch herum? Macht sie los."
Wie auf Kommando bewegten sich die zwei Männer wieder, der eine zückte ein Messer und schnitt damit die Kabelbinder auf. Währenddessen konnte ich die ganze Zeit meinen Blick nicht mehr von meinem Onkel nehmen. Er hatte mich gefunden. Ich wusste nicht, wie, aber er war hier, um mich zu befreien.
Ich atmete tief aus und sprang ihm in die Arme. „Ich bin so froh, dich zu sehen", flüsterte ich gegen sein dunkelblaues Jaquet, das er trug. Er legte die Hände um meinen Körper und zog mich zu sich. Automatisch durchströmte ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit durch meine Adern. Endlich konnte ich wieder etwas aufatmen, da ich wusste, dass mich mein Onkel sicher nach Hause bringen würde.
„Was ist passiert?", fragte er und ließ mich dabei wieder los. In seinen Augen sah ich die Besorgnis, die ich nur zu gut von ihm kannte.
Ich fasste mir an die Stirn und versuchte mich zu erinnern, wie ich eigentlich in diesen Schlamassel geraten bin. „Ich bin mitten in der Nacht aufgebrochen, um zu trainieren. Als ich nach dem Training in die Umkleidekabinen bin, wurde ich von zwei Männern angegriffen."
„Du hast nichts bemerkt?", fragte er, was tatsächlich etwas vorwurfsvoll klang.
Ich runzelte leicht die Stirn, blieb jedoch still und schüttelte meinen Kopf. „Ich war abgelenkt- " Noch bevor ich die Worte zu Ende ausgesprochen hatte, presste ich die Lippen aufeinander. Ich konnte meinem Onkel wohl kaum erzählen, dass ich mir eine Nachricht meines Ex angehört hatte, der den Mörder von Edwart und Cory gefunden hatte.
„Abgelenkt?", fragte Onkel Jack nach und warf mir dabei einen eindringlichen Blick zu. „Von was?"
Ich öffnete den Mund, doch ich brachte kein Wort raus. Mein Onkel kannte mich so gut, dass er sofort wusste, dass etwas nicht stimmte.
„I-ich hatte eine einfache Nachricht bekommen", murmelte ich und zuckte mit meinen Schultern.
„Eine Nachricht? Von wem?" Plötzlich änderte sich seine komplette Haltung, was mich überraschte. Er wirkte nicht mehr ganz so besorgt, sondern eher aggressiv. Das Gespräch nahm einen ganz anderen Verlauf, als ich angenommen hatte
„Warum ist das wichtig?", fragte ich abwehrend.
Onkel Jack packte mich an den Armen, dabei war sein Griff so fest, dass ich mich kaum rühren konnte. Seine Mimik war verzerrt zu einem drohenden Blick. Ich erkannte ihn nicht wieder.
Von wem, Fallon?", knurrte er.
Erschrocken weiteten sich meine Augen, denn der Mann, der vor mir stand, war alles, aber nicht mein Onkel Jack. „Du tust mir weh", hauchte ich zitternd und versuchte mich zu wehren, doch er war definitiv stärker als ich. Tatsächlich verspürte ich in diesem Moment etwas wie ... Angst. Normalerweise war er der Erste, zu dem ich flüchtete, wenn mir etwas auf dem Herzen lag. Er war der Erste, dem ich meine Probleme anvertraute. Er war der Erste, der mir Sicherheit geben konnte.
Aber wenn ich jetzt in seine Augen blickte, dann sah ich Gefahr.
Ich drückte mich von ihm weg und stolperte ein paar Schritte nach hinten. Ich hatte keine Ahnung, was ich von seinem groben Verhalten halten sollte.
„Woher wusstest du, dass ich hier bin?", fragte ich atemlos, ohne auf seine Frage einzugehen.
Kein einziger Muskel bewegte sich bei meinem Onkel, er wirkte wie erstarrt, aber nicht, weil er unsicher war – ganz im Gegenteil, er wirkte viel gefasster als jemals zuvor. Die Sorge in seinen Augen war vollkommen erloschen, da war nur eine unmenschliche Härte, die mich ins Knochenmark erschütterte.
„Hast du sie dir angehört?" Seine Stimme klang so gefühlskalt, so vollkommen emotionslos.
„Ich habe niemandem gesagt, dass ich zu den Trainingshallen gegangen bin. Also, woher wusstest du, wo ich war? Wie konntest du mich finden?", wiederholte ich. Mein Herz pochte mir gegen meine Rippen, das Adrenalin rauschte durch meine Ohren. Ich war angespannter denn je.
Hast du die Nachricht von Cayden angehört?", fauchte er bedrohlich.
Ich hielt den Atem an. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich die Frage richtig verstanden hatte, doch je mehr Sekunden des Schweigens zwischen uns verstrichen, desto sicherer wurde ich mir, was mein Onkel tatsächlich gefragt hatte. Seine Gesichtszüge spannten sich an, als auch er zu realisieren begann, was er gerade von sich gegeben hatte. Er wusste es. Er wusste von Cayden und mir. Wer weiß, für wie lange schon. Aber woher? Wie konnte er es wissen? Wenn nicht einmal mein Vater davon wusste, wie hatte er es geschafft zu wissen, was zwischen Cayden und mir war?
„Es überrascht dich, dass ich davon Wind bekommen habe?" Seine Augenbrauen schossen nach oben. „Ich wusste es, ..."
Vielleicht hatte er mitbekommen, wie mein Vater und ich uns gestritten hatten. Vielleicht hatte ich an dem Abend, an dem ich Cayden mit einer anderen Frau erwischt hatte, ein betrunkenes Wort zu viel gesagt. Vielleicht hatte er an den Veranstaltungen die Blicke zwischen uns bemerkt.
„ ... und zwar schon eine ganze Weile." Vielleicht hatte er bemerkt, wie ich mich heimlich davonschleichen konnte. Wie ich fast jede Nacht aufbrach, um Cayden zu. Vielleicht ... vielleicht ...
„Ich schätze, ich wusste es sogar, noch bevor du wusstest, was für einen unglaublich dummen Fehler machen würdest. Dich in ihn zu verlieben."
Jeder Atemzug fühlte sich an wie Sandpapier auf meiner Haut. In meinem Kopf rasten tausende Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Wie zum Teufel konnte er bereits so lange über die heimlichen Treffen zwischen Cayden und mir wissen? Und die noch viel wichtigere Frage, wieso hatte er nichts gesagt? Wenn es wirklich so ein dummer Fehler war, wie er es mir vorwarf, wieso hatte er die ganze Sache nicht beendet?
„Denkst du, es war Zufall, dass ihr die ganzen Hinweise und Indizien findet? Denkst du, es war Zufall, dass der Täter, den ihr so dringend gesucht habt, ein DeLaurant ist?" Er wartete noch nicht einmal auf meine Antwort, sondern redete einfach weiter. „Nein", schnaubte er. „Ihr seid der Spur aus Brotkrummen gefolgt, genau so, wie ich es wollte."
Wie er es wollte? Wieso sollte er all die Hinweise so auslegen, dass wir in Wahrheit nicht den richtigen Mörder, sondern jemand unschuldiges schnappen? Mein Kopf begann bereits vor lauter neuen Informationen zu explodieren.
Mein Onkel fuhr sich Kopf schüttelnd durch den Kopf, während seine kalten Augen nicht von meinem Gesicht wichen. Es war beängstigend, wie sehr er sein Verhalten hatte ändern können.
„Natürlich hatte ich nach eurer Trennung nicht damit gerechnet, dass ihr beide trotzdem mit eurem Plan weitermachen würdet. Immerhin hatte ich ausreichend dafür gesorgt, dass die Bilder und Video, die ich Gregor DeLaurant anonym hatte zukommen lassen, mehr als belastend sein würden ..."
Mir klappte der Mund auf. „Du ... hast uns verraten?", wiederholte ich mit dünner Stimme. Tränen füllten meine Augen.
Mittlerweile war ich zu dem Entschluss gekommen, dass unsere Trennung nicht einfach so passiert war, sondern dass der ein oder andere äußere Einfluss seine Finger im Spiel hatte. Aber das, was mein Onkel gerade zugab, änderte alles. Er war mehr als nur mein Onkel, er war eine meiner Bezugspersonen, er war wie ein verdammter Vaterersatz. Und jetzt bekam ich zu hören, dass mein Verhältnis mit Cayden wegen ihm den Bach runter lief, dass ich wegen ihm litt und wegen ihm Schmerzen durchmachen musste, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass es sie gab.
Verdammt, wer war dieser Mensch, von dem ich geglaubt hatte, dass ich ihn meine Familie nennen konnte?
„Wieso?", flüsterte ich, und atmete tief ein. Einzelne Tränen bahnten sich ihren Weg über meine glühenden Wangen. „Wieso hast du das gemacht?"
Mein Onkel entließ abermals ein Schnauben, sein anschließendes leichtes Grinsen wirkte fast schon verstörend. „Kannst du es dir denn nicht denken, Fallon?", murmelte er und blickte durch den Raum. „Kannst du dir nicht denken, wie du hierhergekommen bist? Kannst du dir nicht denken, wieso ich das alles getan habe? Deine Beziehung so lange zu tolerieren, nur um euch auf eine andere Fährte zu locken? Kannst du dir nicht denken, wieso ich nicht wollte, dass jemand die Wahrheit kennt?"
Bei jeder Frage kam er einen kleinen Schritt auf mich zu, doch ich wich ihm immer wieder aus. Mein Puls raste, mein Körper zitterte vor Angst, ich konnte kaum atmen.
Ich habe Edwart umgebracht", er machte eine dramatische Pause, doch ich wollte, dass diese niemals vorbei gehen würde. Nicht, um zu wissen, was er als nächstes sagen würde. „Ich habe Cory umgebracht. Ich war das."
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, immerhin hatte ich unterbewusst irgendwo geahnt, dass das die Wahrheit sein musste, seit seine Fassade zu bröckeln begann. Und dennoch brauchte ich einige Momente, um zu begreifen, was er da von sich gegeben hatte, was er da gerade zugab.
Er hatte Edwart getötet. Er hatte Cory getötet. Er hatte meine Familie zerstört.
In seinen Augen erwartete ich etwas, wie Reue oder auch nur einen Funken Mitleid, aber da war gar nichts. Nichts.
Ich stützte mich an der Betonwand ab, doch es gab nichts, was mir im Moment auch nur ansatzweise eine Stütze sein konnte. Mein eigener Onkel hatte seine Familienmitglieder umgebracht, er hatte sie getötet, er war der Mörder. Doch das war noch nicht einmal das schlimmste. Er wusste die ganze Zeit genau, was er getan hatte, er wusste die ganze Zeit, wie sehr die Tode unsere Familie und vor allem mich belastet hatte, und dennoch konnte er mir problemlos ins Gesicht schauen. Er lebte sein Leben ganz normal weiter, obwohl er zwei andere Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Er aß, er trank, er schlief und er lachte ohne Probleme. Als wäre nichts passiert.
Wie konnte er nur mit so einer Tat leben? Wie konnte er auch nur irgendwie im Leben weitermachen, obwohl er wusste, was er getan hatte?
Mir liefen die Tränen über das Gesicht, doch es konnte noch nicht einmal ansatzweise die Trauer symbolisieren, die ich im Inneren fühlte. Seit Monaten hatte ich darauf hingearbeitet, den Mörder zu finden, und jetzt, wo ich ihn direkt vor mir hatte, wollte ich, dass die Wahrheit eine andere wäre. Er hatte nicht nur mich, sondern seine gesamte Familie hintergangen. Den Verrat, den ich empfand, war noch nicht einmal in Worte zu fassen. Der Mann, den ich vor mir stehen hatte, war nicht derselbe, der mich vor ein paar Wochen noch im Arm gehalten und getröstet hatte. Falsch, es war derselbe Mann, aber er hatte zwei Gesichter, die er perfektioniert und mir somit etwas vorgemacht hatte.
Durch meinen Tränenschleier sah ich das Gesicht meines Onkels nur noch verschwommen, aber ich hätte es auch nicht ertragen, ihn jetzt richtig ansehen zu können.
„Wie konntest du ...", meine Stimme zitterte, aber nicht vor Angst, sondern vor Wut. „... nach allem, was du getan hast, auch nur einen einzigen Tag weiterleben?!" In meinem Inneren herrschte ein Zorn, den ich noch nie zuvor verspürt hatte, kein einziges Mal bei meinem Vater, kein einziges Mal bei Cayden.
Die Mimik meines Onkels blieb vollkommen gleich, er tat noch nicht einmal reumütig, was mich nur noch mehr zum Rasen brachte. Ich lief auf ihn zu, doch die zwei Männer, die sich ebenfalls im Raum befanden, hielten mich an den Armen zurück.
„Verdammt, du hast zwei Menschenleben auf dem Gewissen, und nicht nur von irgendwelchen Leuten, sondern von denen, die dir am nächsten stehen!", fauchte ich, während ich mich gegen die Kraft der Männer wehrte. „Du hast zwei Mitglieder deiner Familie umgebracht! Deine eigene Familie!"
Ich wusste, dass mein Handeln vollkommen durch meine Emotionen gesteuert worden ist, aber das konnte mir gleichgültiger nicht sein. Ich durfte nicht nur wütend auf ihn sein, ich hatte das Recht dazu. Dabei war es gar nicht die Wut, die mich so übermahnt hatte, vielleicht im ersten Moment, aber nicht mehr jetzt. Mein gesamter Körper, jede meiner Zellen, jede meiner Synapsen verzehrte sich von einem Hass, für den es keine Worte gab.
Je länger ich gegen die Männer ankämpfte, desto mehr Energie raubten sie mir. Irgendwann zappelte ich einfach nur noch, doch ich konnte nicht aufhören. Nicht, solange ich auch nur einen Funken Lebenskraft in mir steckte, der für Gerechtigkeit sorgen könnte.
„Du hast Edwart umgebracht", flüsterte ich nun mehr und ließ den Kopf hängen, genauso wie meinen Körper. Wie konnte er das nur tun?
„Du hast Cory umgebracht", schluchzte ich und schüttelte fassungslos den Kopf. Meine Cousine, meine Freundin, ermordet von meinem eigenen Onkel. Er war ein Monster, ein Monster, dass es nicht verdient hatte, auch nur einen weiteren Tag so weiterleben zu dürfen, wie er es bisher tat.
Langsam hob ich den Kopf wieder, obwohl es mir schwerer fiel, als erwartet. „Was könnte der Grund dafür sein, dass all das hier", ich sah mich in dem Raum um, „dein Handeln auch nur in irgendeiner weise rechtfertigt?"
Ich merkte, wie er angespannt die Zähne zusammenpresste. Das war die erste Reaktion überhaupt, die er nach langem wieder zeigte. Es wirkte auf mich so, als würde mein Verhalten ihn tatsächlich irgendwo kränken, aber vielleicht war das auch nur der Wunsch, meinen alten Onkel zurückzubekommen.
Er richtete sein Jaquet und räusperte sich. Sein Blick war erfüllt mit einer eisigen Kälte. Ich wusste, dass es dumm war, zu hoffen, dass er sich noch irgendwie ändern könnte, doch er war immerhin mein Onkel, das einzige Familienmitglied, zu dem ich noch irgendwie einen Draht besaß. Ich wollte nicht glauben, dass er tatsächlich zu so etwas Grausamen in der Lage war.
„Es ist so, wie es dein Vater dich immer gelehrt hatte", entgegnete er mit so einer Distanz, die mich ernsthaft daran zweifeln ließ, ob überhaupt noch ein bisschen Menschlichkeit in ihm stecken könnte. „Es geht um's Geschäft."
Ungläubig starrte ich ihn an. Hatten diese Worte gerade wirklich seinen Mund verlassen? Alles in mir sträubte sich, die Wahrheit zu erfahren, da ich genau wusste, dass mich jedes weitere Wort nur noch mehr kränken würde. Doch es war egal, ob ich mit der Wahrheit klarkommen könnte oder nicht, wichtig war jetzt nur Gerechtigkeit für Edwart und Cory zu erfahren.
„Geschäft?", wiederholte ich leise, doch da packte mich sofort wieder die Wut. „Was für mein Geschäft könnte über deiner Familie stehen?!"
Onkel Jack lief die paar Meter, die uns trennten, auf mich zu. Sein zorniger Ausdruck machte mir Angst, aus Reflex versuchte ich nach hinten zu weichen, doch die Männer hielten mich an Ort und Stelle. Sein Gesicht war meinem nur noch einige Zentimeter entfernt, was mein Herz zum Pochen brachte.
Mein Geschäft, Fallon", knurrte er und fletschte dabei gefährlich mit seinen Zähnen. „Das Geschäft, das ich mir aufgebaut habe, das meinen Namen trägt, und nicht den deines Vaters."
„Das alles hast du nur getan, um irgendein verdammtes eigenen Unternehmen aufzubauen?!" Meine Stimme klang schrill, doch es repräsentierte nicht meine innere kochende Wut, die ich auf ihn hatte.
„Du weißt nicht, wie es ist, das schwarze Schaf in der Familie zu sein, Fallon. Alles und jeder liegt dir zu Füßen", er schüttelte den Kopf, „aber mir nicht. Weshalb glaubst du eigentlich, wieso ich nicht auf dem Anwesen lebe? Wieso ich euch nur alle paar Wochen einen Besuch abstatten darf? Hm?"
Ich presste die Lippen aufeinander.
„Sicherlich nicht, weil ich Spaß daran habe, von allem und jedem isoliert zu leben, sondern weil dein Vater", er zeigte mit dem Finger auf mich, „seine Position als Oberhaupt ausnutzt, und mich aus allem raushält. Selbst ein Leben mit meinem eigenen Bruder ist mir nicht gestatten!"
Davon hatte ich keinerlei Ahnung. Mein Vater hatte mir immer erklärt, dass mein Onkel nur deswegen nicht bei uns leben wollte, weil er seine Freiheiten brauchte. Ich hatte ihm das ohne weiteres einfach so abgekauft, denn mein Onkel konnte ein Leben führen, zu dem ich nie, niemals, Zugang haben könnte. Dass er das jedoch gar nicht wollte, war tatsächlich etwas überraschend für mich.
Ich schüttelte dennoch den Kopf. „Das ist nichts, worüber man nicht reden könnte", widersprach ich ihm, doch dabei traf ich wohl einen weiteren Nerv.
Mein Onkel schnaubte verächtlich und warf die Arme in die Luft. „Denkst du, das habe ich nicht bereits versucht? Ich hatte versucht, Aloisius wieder und wieder umzustimmen, ihn davon zu überzeugen, dass ich ihm eine Hilfe sein konnte ...", er machte eine Pause, „... aber er wollte mir nicht mal mehr zuhören. Er hat mich von seinem Anwesen verbannt."
Jetzt war ich diejenige, die ein Schnauben entließ. „Ist dir eigentlich einmal in den Sinn gekommen, wieso er das getan haben könnte?"
Die Mine meines Onkels blieb gleich.
„Er wollte dich schützten, verdammt nochmal!" Ich wehrte mich erneut gegen die Arme der Männer, und tatsächlich gaben sie mich endlich frei. „Weißt du nicht, wie gefährlich es ist, mit oder für meinem Vater zu arbeiten? Weißt du nicht, dass das Leben von ihm und all den Menschen, mit denen er zu tun hat, tagtäglich auf der Kippe stehen?"
Zum ersten Mal seit langem fing ich an, meinen Vater, dessen ständige Distanz und Abwesenheit mich verfolgte, dafür da war, um mich möglicherweise zu schützten, zu verstehen.
„Natürlich weiß ich das", lachte mein Onkel zynisch auf. „Immerhin wurde ich selbst Opfer von dem selbst ernannten Rechenschaftskommando deines Freundes."
Die Welt schien für einen Augenblick aufgehört haben, sich zu drehen. Eigentlich sollte es mich nicht mehr kränken, wenn die Rede von Cayden war, aber genau das, ließ mich vor Sorge fast platzen. Der verpasste Anruf und die verstörende Nachricht von ihm, in der er mir erzählen wollte, wer der Mörder war, hatte ich vollkommen verdrängt. Ich wusste nicht, wie oder warum er sich dazu entschieden hatte, den Plan auf eigene Faust weiterzuverfolgen, aber er setzte sein Leben auf's Spiel, nur um zu erfahren, wer einen Teil meiner Familie umgebracht hatte.
„Wo ist er?" Meine Stimme zitterte leicht, denn ich fürchtete mich vor der Antwort. Ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn ihm auch nur irgendetwas passiert wäre, meinetwegen.
Von hinten trat ein weiterer Mann in den Raum, doch er hielt sich eher bedeckt. Er lehnte sich zu meinem Onkel und flüsterte ihm etwas in sein Ohr. Ohne mir eine Antwort zu geben, drehte er sich um und setzte einen Schritt Richtung Ausgang.
Ich hielt ihn am Arm fest. „Was hast du mit ihm gemacht?"
Die Augen meines Onkels wanderten von meiner Hand, die ihn gepackt hatte, hoch zu meinem Gesicht. In ihnen war jegliche Emotion erloschen. Er entzog sich meinem Griff und schubste mich zurück in das kleine Zimmer, dabei verlor ich jedoch das Gleichgewicht und fiel auf den Boden. Ohne einen weiteres Wort zog er die Türe hinter sich zu und sperrte mich ein.

Forbidden loveWhere stories live. Discover now