5| Unbekannter Hübschling

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»Hey.« Erschrocken drehe ich mich um und halte mir meine Hand vor die Brust. »Verdammte Scheiße, hör auf damit!«, gestikuliere ich wie wild mit meinen Händen und sehe in Livians grinsendes Gesicht. »Womit?«, fragt er belustigt. Oh ja, dass findet der Herr natürlich lustig. »Hör auf dich ständig anzuschleichen! Ich kriege immer einen halben Herzinfarkt«, murre ich und schließe meine Spindtür. 

Seine Mundwinkel heben sich leicht. »Ich warte nach der Schule auf dem Parkplatz auf dich. Wenn du zu spät kommst, fahre ich ohne dich.« Ich verdrehe grinsend die Augen und schultere meinen Rucksack. »Dann komme ich am besten gar nicht!«, rufe ich erfreut. Er schüttelt den Kopf und nähert sich gefährlich meinem Gesicht. Ach du meine Güte.

Ich schlucke mehrmals und befeuchte meine Lippen, da mich diese plötzliche Nähe unglaublich nervös macht. Er ist mir schon so nah, ich kann seinen Atem auf meinem Gesicht spüren. Mein Mund ist wie auf Knopfdruck trocken und rau, als wäre ich monatelang in der Wüste gewesen. »Glaub mir, du wirst kommen«, haucht er und kommt mir noch näher. Mein Atem setzt für eine Sekunde aus. »Nach diesem Date wirst du an mir kleben wollen.« Und schon verfliegt das Gefühl wieder.

Natürlich muss dieser Penner alles zerstören. Was habe ich auch erwartet? Es ist nun mal Livian. »Nach diesem Date werde ich dich verbrennen wollen«, rümpfe ich die Nase und schlage seine Hand weg, als er mir durch die Haare streichen wollte. Er entfernt sich lachend von mir. »Man sieht sich später, Sommersprosse.« Schmunzelnd schüttle ich den Kopf. »Hoffentlich nicht«, rufe ich ihm nach.

Das kann ja mal was werden.

• • •

Ich schalte meine Playlist an. Als das Lied Sun Comes Up ertönt, schließe ich entspannt die Augen und summe leicht zum Lied mit, während ich den Weg nach Hause laufe. Bei dem Gedanken, wie Livian draußen vor dem Parkplatz auf mich wartet, fange ich schelmisch an zu grinsen. Ich höre nicht gerne auf andere, schon gar nicht, wenn man mir Befehle erteilt.

Meine Musik wurde von einer Nachricht unterbrochen. Welche Nachricht ist wichtiger als meine Musik? Ich verdrehe die Augen und öffne die Nachricht. Ich runzele die Stirn, denn die Nummer ist nicht eingespeichert.

»Du Hexe, ich wusste ich hätte dich einfach mitschleifen sollen.« - Unbekannter Hübschling. 14:36.

Ich verdrehe schmunzelnd die Augen. So ein Idiot.

»Entschuldige, kennen wir uns?« - Wundervolle Hexe. 14:37.

»Oh ja, sogar ziemlich gut. Erinnerst du dich nicht an mich? Du hast mir jahrelang verträumt hinterher geschaut.« - Unbekannter Hübschling. 14:39.

Pah, wer's glaubt! Da würde ich lieber Erbrochenes anstarren.

»Ich glaube jetzt bist du derjenige, der zu viel träumt.« - Wundervolle Hexe. 14:41.

Bevor ich mein Handy wieder in meine Jackentasche packe, drücke ich wieder auf Play und sehe mich auf den Straßen um, ehe ich die Kreuzung überquere.

Zuhause angekommen werde ich -wie immer eigentlich- von Dorian überrumpelt. »AVI!« Ich fange an zu lachen und kneife ihm in seine pummeligen Backen. Die haben wir eindeutig von unserer Mutter. »Hey Kleiner.« Ich wuschele ihm durch die Haare und sehe mich im Wohnzimmer um.

Auf der Couch liegt Mom. Dunkle Augenringe zieren ihr herzförmiges Gesicht. »Wann ist sie gestern schlafen gegangen?«, frage ich Dorian angespannt. Er zuckt mit den Schultern und sieht mich traurig an. »Sie ist so erschöpft nach Hause gekommen. Ich wollte ihr helfen, aber ich kann nicht kochen.« Er lächelt mich leicht beschämt an.

»Keine Sorge, du hast alles richtig gemacht.« Ich hänge meine Jacke auf und ziehe meine Schuhe aus. Vorsichtig laufe ich zur Couch und mustere ihr Gesicht. Ein komisches Gefühl macht sich in meiner Brust breit. Sie hat gesagt, sie müsse nur noch diesen Tag so lange arbeiten.

Ich gebe ihr einen leichten Kuss auf die Stirn und ziehe die Decke über ihre Schultern. »Bald ist es vorbei«, flüstere ich und streiche ihr Haarsträhnen aus dem Gesicht. Momentan gibt es Personalmangel auf ihrer Arbeit, deswegen muss sie auch mehrere Schichten einspringen. Sie wird zwar besser bezahlt, aber sie kommt immer so erschöpft und müde von der Arbeit nachhause. Kein Geld dieser Welt ist diesen Anblick wert. Ich entferne mich von ihr und laufe die Treppen nach oben, um mich in meinem Zimmer umzuziehen und dann in der Küche etwas zum Essen vorzubereiten.

»Dorian?«, frage ich und stupse ihn leicht an der Schulter an. »Hm?« Er sieht von seinem Marvel Comic hoch und sieht fragend zu mir. »Was willst du essen? Kein Spaghetti!« Er verzieht beleidigt das Gesicht und sieht wieder auf sein Comic. »Lasagne«, murmelt er leise. Ich nicke lachend und drücke ihm einen Schmatzer auf den Kopf, ehe ich mich der Lasagne zuwende. 

Nach einer Weile lege ich zwei Teller für uns auf den Tisch und nehme Besteck aus der obersten Schublade raus. Dorian und ich setzen uns auf die Stühle und essen schweigend. »Warum arbeitet Mama so lange?« Ich halte in meiner Bewegung inne und sehe langsam zu ihm hoch. »Das ist nur vorübergehend.« Er schüttelt den Kopf und nickt in ihre Richtung.

»Sie ist seit Wochen jeden Tag erschöpft nach Hause gekommen. Ich bin vielleicht jung, aber nicht blöd.« Ich verschlucke mich beinahe an der Lasagne. Manchmal spricht er so, als wäre er der Erwachsene von uns. »Das ist nicht mehr so. Heute war es das letzte Mal. Und jetzt iss deine Lasagne weiter, sonst wird sie noch kalt.«

Er verdreht die Augen und isst schweigend weiter. Ich mag es nicht, mit ihm über das Thema zu sprechen. Er hat keine Ahnung von der Arbeitswelt und würde nicht verstehen, wieso es Personalmangel auf der Arbeit gibt und warum genau unsere Mutter jetzt einspringen muss. Er hat mich schon öfter auf ihre Gesundheit angesprochen, weil sie einmal nicht nach Hause gekommen ist und Überstunden im Büro machen musste. 

Heute ist das letzte Mal gewesen, sie hat es mir versprochen.

Weird LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt